Die Herrin der Kathedrale
Krankenkammer, wie es ihr seit nunmehr drei Jahren in Gernrode jeden Morgen zur Pflicht geworden war. Die Kammer hielt sie stets entriegelt, damit sie zügig zu ihren Patienten gelangen konnte, wenn diese schrien, fluchten oder beim voreiligen Versuch, die Bettstatt zu verlassen, zusammenbrachen. Dem Neuankömmling aus Ballenstedt würde sie gleich einen Trank aus Linden- und Kamillenblüten zubereiten, um das Fieber zu senken. Pflichtbewusst überprüfte sie den Sitz ihres Schleiers, betrat die Krankenkammer und steuerte auf den Kräuterschrank in der Ecke des Raumes zu.
Von Schwäche gebeugt, betrat Uta in diesem Moment die Kammer. Die Schwester am Portal hatte sie und die Stute wiedererkannt, fassungslos eingelassen und Utas Gang in Richtung der Stallungen mit dem Versprechen verfolgt, unverzüglich die Äbtissin zu informieren. Uta zitterte am ganzen Körper und hatte sich das Oberkleid wie einen Mantel fest über die Schultern gezogen.
Als ob ihr gerade der fleischgewordene heilige Cyriakus begegnete, blickte Alwine von dem Mädchen zur Tür und wieder zurück. »Wartet, ich helfe Euch«, sagte sie dann und bot Uta den Arm zur Stütze.
»Lasst mich«, wehrte Uta die Schwester ab und hievte sich auf ihr Lager. Daraufhin schlang Schwester Alwine eine Decke um sie.
»Sie ist weg«, murmelte Uta. »Für immer.«
»Wer ist weg?«
Statt einer Antwort klammerte sich Uta an der Decke fest.
Alwine ging zu einem kleinen Schränkchen und kam mit einem Becher verdünnten Weines wieder zurück, der das Gemüt des Mädchens beruhigen sollte. Sobald es schlief, würde sie etwas gegen sein Zittern unternehmen müssen. »Trinkt das«, sagte sie und reichte Uta den Becher. »Es wird Euch schlafen lassen.«
»Er wird dafür bezahlen. Auf seinem eigenen Gerichtstag.« Uta ignorierte das ihr gereichte Getränk. »Am Fest des heiligen Georg wird er gerichtet werden.«
»Ihr hättet nicht aufstehen dürfen!« Alwine griff nach zwei weiteren Decken und schlang diese um Utas Körper. »Ihr seid genauso erschöpft wie ein Kämpfer nach der Schlacht.«
Vor Kälte ganz starr, drehte Uta sich mit dem Gesicht zur Wand ihrer Bettstatt und zog die Knie vor die Brust. Erst dann rannen die Tränen.
Sie öffnete zögerlich die Augen. Die Umrisse eines weiblichen Wesens schälten sich aus einer Vielzahl verschwommener Grautöne über ihr heraus. »Mutter«, hauchte Uta und griff nach einer Hand, die sich fleischig und weich anfühlte.
»Ihr habt mich doch nicht verlassen.« Endlich war dieser schreckliche Alptraum vorbei: Die Mutter lebte. Jetzt würde doch noch alles gut werden. Uta hob den Kopf an, wodurch das Gesicht der Frau über ihr immer mehr Falten um Augen und Mund herum gewann. Falten, die die Mutter nicht besessen hatte. Erschrocken zog sie die Hand zurück unter ihre Leinendecke.
»Ich bin Schwester Hathui, die Äbtissin von Gernrode«, sprach die faltige Frau und strich an der Stelle über die Decke, wo sie Utas Hand vermutete. »Es freut mich, dass Ihr aus Eurem Schlaf erwacht seid. Ihr weilt bereits einen halben Mondumlauf in unseren Mauern. Schwester Alwine wird Euch in den kommenden Tagen gesund pflegen, so dass Ihr bald zur Gemeinschaft unserer Schwestern stoßen könnt.« Die Äbtissin bedachte Uta mit einem sanften Blick. »Seid Euch sicher, dass der Herrgott Euch beschützt.« Hathui war erleichtert, dass ihr Neuzugang seinen Ausflug hoch zu Ross lebend überstanden hatte.
Enttäuscht drehte sich Uta wieder mit dem Gesicht zur Wand. Dann war dies alles also doch kein Traum gewesen: die Rabenvögel, der Leichnam der Mutter, der Vater – ein Mörder.
»Der Herrgott beschützt uns?«, fragte sie plötzlich und fixierte eine Fliege an der Wand. »Aber wie konnte er dann so etwas geschehen lassen?«
Äbtissin Hathui hielt inne. »Ihr wisst davon?« Sie schaute verwundert zu Alwine, die das Gespräch von der Tür aus verfolgte. Alwine hob nichtwissend die Schultern, worauf sich die Äbtissin wieder ihrer Patientin zuwandte. »Vertraut darauf, dass der Herr Eure Mutter gütig aufgenommen hat.«
Uta starrte weiterhin an die Wand. »Aber ihre Zeit war noch nicht gekommen.«
»Man erzählt sich, dass das Fleckfieber nun auch auf mehreren Burgen in den angrenzenden Grafschaften wütet. Aber seid versichert, dass sich der Herrgott ihrer Seele annehmen wird.«
»Das Fle… Fle… Fleckfieber?«, stotterte Uta und drehte sich nun zur Äbtissin um.
»Beruhigt Euch, Schwester«, sagte Hathui. »Es tut mir sehr leid, dass
Weitere Kostenlose Bücher