Die Herrin der Kathedrale
beiden vorderen Patientinnen schlafen sah. Hathui Billung war dem Gernroder Stift in besonderer Weise verbunden. Sie war die verwitwete Schwiegertochter des Klostergründers Gero von der Ostmark, der ein bekannter Heerführer des großen Kaisers Otto gewesen war. Hathui wurde im Heiligen Römischen Reich nicht nur deswegen Gehör geschenkt, weil ihre Tante Mathilde vor beinahe einhundert Sommern durch ihre Hochzeit mit dem Liudolfinger Heinrich I. Königin von Ostfranken geworden war, sondern weil ihre Ratschläge voller Lebenserfahrung und Menschenkenntnis waren. Dieses Gehör führte die Äbtissin in die machtvollen Damenstifte des Reiches nach Quedlinburg, Gandersheim und Essen. Doch noch vor dem Wohl des Stiftes und ihrer familiären Verpflichtung dem Reich gegenüber stand für sie das Wohl ihrer vierundzwanzig Sanctimonialen. Und ihr jüngster Neuzugang machte ihr dieser Tage besondere Sorgen. Sie trat vor Utas Lager. »Gelobt sei unser Herr, Schwester«, grüßte sie und betrachtete die zusammengekauerte Gestalt vor sich. »Es freut mich zu sehen, dass Eure Heilung fortschreitet.«
Zögerlich drehte sich Uta um. Wenn sie geheilt war, warum fühlte sich ihr Herz dann so wund an?
Die Äbtissin lächelte. »Stellt Euch doch einmal gerade vor mich hin, damit ich mich selbst davon überzeugen kann.«
Uta vermochte die Äbtissin nur verstört anzuschauen.
»Kommt Schwester, ich helfe Euch beim Aufsetzen.« Vielleicht, weil die Stimme der Äbtissin die Ruhe des Alters besaß, schlug Uta die Decke zurück. Von den dünnen, aber kraftvollen Händen der Äbtissin gestützt, erhob sie sich und starrte auf das weiße Mauerwerk ihr gegenüber.
Die Äbtissin schob ihr Leinengewand nach oben und tastete Uta an den Oberschenkeln ab. »Die Beschaffenheit Eurer Haut und deren Farbe sagen mir, dass die Körpersäfte wieder im Gleichgewicht fließen.« Als Nächstes prüfte sie Knie und Armgelenke. »Das hat Schwester Alwine sehr gut gemacht. Der Herrgott hat ihre Hände und ihren Verstand bei Eurer Pflege geführt.« Schließlich ließ sie Utas Leinenhemd wieder sinken. »Versucht, Beine und Arme in den nächsten Tagen stetig, aber mit Bedacht zu bewegen.«
»Schwester?«, fragte die Äbtissin, als sie Utas Geistesabwesenheit bemerkte. »Bitte legte Euch Euren Umhang um, damit ich Euch ein Bett zuweisen und Euch dann in Eure Zelle führen kann.«
Uta gehorchte ihr teilnahmslos. In diesem Moment wäre sie auch der Einladung eines Henkers gefolgt.
»Ihr solltet wissen«, begann die Äbtissin im Kreuzgang und grüßte dabei zwei vorbeigehende Schwestern mit einem Nicken, »dass Gernrode kein Benediktinerinnenkloster wie die meisten anderen Klöster hierzulande ist, sondern der Institutio Sanctimonialium folgt. Unsere Lebensregel hat zwar die Benediktregel zum Vorbild, lässt jedoch einige Ausnahmen wie zum Beispiel Einzelzellen und den Verzicht auf Armut zu. Die Einzelzellen stehen jedoch lediglich für Ruhezeiten tagsüber zur Verfügung. Den größten Teil Eurer Zeit werdet Ihr mit Stundengebeten, Messen und Fürbitten für die Verstorbenen unserer Gedächtnisliste verbringen. Die Glocken werden Euch zu jeder unserer sieben Gebetszeiten rufen«, erklärte sie weiter. »Im Damenstift müssen die Sanctimonialen kein ewiges Gelübde als Braut Christi ablegen. Allein meine Wenigkeit und Pater Wolfhag, der die Messe liest, sind dem Allmächtigen auf Ewigkeit versprochen. Sofern Ihr das ewige Gelübde jedoch abzulegen wünscht, steht Euch diese Möglichkeit natürlich offen.«
Die Worte der Äbtissin rauschten in Utas Ohren.
Sie betraten den Schlafsaal, in dem vierundzwanzig Betten, jeweils vier in sechs Reihen, aufgestellt waren. »Die Stiftsdamen nächtigen nicht in ihren Einzelzellen, sondern in diesem Schlafsaal.« Die Äbtissin schritt durch die Reihen und überprüfte die Sauberkeit der Betttücher, die gefaltet auf den Wolldecken über den Holzgestellen lagen.
Utas matter Blick glitt flüchtig durch den Raum.
»Wir betrachten unser Zusammenleben hier als das einer Familie des heiligen Cyriakus, dem unser Kloster geweiht ist.« Hathui Billung begann, jedes der vierundzwanzig Leinen aufzuschlagen und zu überprüfen. »Zur Familia Sancti Cyriaci gehören natürlich zuallererst die Stiftsdamen, meine Wenigkeit und seit heute auch Ihr. Hinzu kommen der Vogt und seine zwei Untervögte, die das Kloster verwalten. Nicht zu vergessen die Vasallen, Knechte und Mägde sowie die Bauern, die dem Kloster Dienste leisten, indem
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