Die Herrin der Kathedrale
Eure Mutter zu Grabe getragen wurde.«
»Aber er muss dafür bestraft werden!« Uta setzte sich fahrig auf, klammerte sich am Holzgestell der Bettstatt fest und begann zurückzurechnen. Der nächste Gerichtstag hatte zum Fest des heiligen Georg abgehalten werden sollen. Wenn sie seit einem halben Mondumlauf hier im Kloster weilte, hatte er bereits vor sieben Tagen stattgefunden.
»Er wurde doch bestraft«, besänftigte sie die Äbtissin und schickte in Gedanken ein stummes Gebet für die leidende Seele hinterher. »Weil er derjenige war, der das Fleckfieber übertragen hat.«
Uta fuhr sich durch das schweißnasse Haar. »Der Vater hat das Fleckfieber eingeschleppt?«
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. »Ein Berittener, der Ballenstedt passierte und in unseren Mauern in den Gästezellen eine Unterkunft fand, hat uns vom Fleckfieber auf der Burg berichtet, das wohl zuerst einen Stallburschen befallen hat, der es dann auf die Gräfin übertragen haben soll.«
Uta dachte sofort an Linhart und sog erschrocken die Luft ein. Er hatte das Fleckfieber ihr gegenüber mit keinem Wort erwähnt, und seine Haut hatte keinerlei Anzeichen aufgewiesen.
»Schwester Uta?«, fragte Äbtissin Hathui. »Ihr solltet Euch jetzt ausruhen. Wir schließen den Wunsch um Eure baldige Genesung in unser Gebet mit ein. Der Herrgott gibt Euch die Kraft dafür.« Die Äbtissin streichelte der regungslosen Uta zuversichtlich den Arm, sprach noch ein kurzes Gebet und verließ dann mit Alwine die Kammer.
Ein unbändiger Schmerz wallte in Uta auf. Unbeeindruckt vom Knacken ihrer Knochen stieg sie aus der Bettstatt. Die Kälte des Steinbodens kroch ihr sofort die Beine hinauf, doch Uta hob den Kopf. »Ich werde dafür sorgen, Mutter, dass Euch Gerechtigkeit widerfährt. Ich werde Euren Mörder seiner Strafe zuführen! Das schwör ich bei meinem Leben!«
2. DIE WELT DA DRINNEN
Das Wimmern der Kleinen erstarb, als der Schlummertrunk seine Wirkung entfaltete. Übersät mit tiefen Kratzern auf Stirn und Wangen, das Kinn blutend, mit offenen Wunden an Armen und Beinen, hatte ihr schutzloser, gepeinigter Körper nach Linderung geschrien. Zumindest hatte der Wolf ihr die Gliedmaßen nicht derart zerbissen, dass Schwester Alwine sie nicht wieder richten konnte und das junge Mädchen im Haus und auf dem Hof der Eltern schon bald wieder würde arbeiten können. Als Alwine, die für diese Gegend einen ungewöhnlich dunklen Teint besaß, die regelmäßige Atmung ihrer Patientin mit Namen Johanna vernahm, erhob sie sich von deren Lager und trat vor das Regal über ihrem Arbeitstisch. Dort griff sie nach einem Glasballon, drehte ihn und betrachtete eingehend seinen Inhalt. Die Mixtur aus Ringelblumentrocknung und Weindestillat hatte sie vor mehr als einem Mondumlauf angesetzt. Die mittlerweile bräunliche Farbe zeigte ihr, dass sie nun abgefiltert werden konnte. Sie legte ein hauchdünnes Scheibchen Pergament auf eine Schale und goss den Inhalt des Glasballons darüber aus. Dabei schaute sie ein ums andere Mal zu ihren Patientinnen hinüber. Neben der kleinen Johanna schnarchte eine ältere Frau, die an der Tür des Klosters um Hilfe gebeten hatte, weil sie wegen Schwindelanfällen immer wieder das Bewusstsein verlor.
Dahinter lag, unter einer Decke zusammengekauert, die neue Schwester, die gemäß dem Wunsch ihrer Mutter ein Leben als Sanctimoniale hier im Gernroder Stift führen sollte, bisher aber alle Gesprächsversuche ignoriert hatte. »Heute wird ein wichtiger Tag für Euch, Schwester Uta«, sagte Alwine wie nebenbei und blickte wieder auf die Schale vor sich, auf die das Konzentrat durch den Pergamentfilter tropfte. Sie begann, den Inhalt des Schälchens in eine kleinere, dunkle Flasche zu füllen. Damit würde sie wieder genug Medizin haben, um auch die Wunden an den Beinen ihrer Wolfsbiss-Patientin zu versorgen.
Regungslos lag Uta mit dem Gesicht zur Wand. Alwines Worte waren lediglich als gedämpftes Geräusch zu ihr vorgedrungen.
»Guten Morgen Schwester Alwine.« Die Äbtissin betrat die Krankenkammer. »Der Herrgott möge Euch segnen.«
Alwine wandte sich von ihrem Arbeitstisch ab und grüßte.
»Der Pater bringt gerade einen Verhungerten in die Sterbekammer«, sagte die Äbtissin. »Würdet Ihr die Waschung vornehmen?«
Alwine nickte. »Natürlich, Schwester Hathui.« Sie räumte die Ringelblumentinktur auf das Regal und verließ die Krankenkammer.
Die Äbtissin schritt an den ersten Lagern vorbei und nickte zuversichtlich, als sie die
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