Die Herrin der Kathedrale
der Unbeflecktheit. Wenn sie darauf starrte, weil die Unruhe sie nicht schlafen ließ, das Fiebern, das Zittern nicht nachließen, erlebte sie die Ereignisse des gestrigen Tages immer wieder von neuem – glaubte Ernas traurigen Blick auf sich zu spüren. Sie meinte, dass hier der sicherste Ort für dich wäre, vernahm sie erneut die Worte der Freundin, ansonsten hörte sie nichts. Die Vorstellung, dass die Mutter ihr womöglich nicht glaubte, den Knappen nicht verführt zu haben, schmerzte sie noch heftiger als die Worte des Vaters. Schwindelnd setzte sich Uta im Bett auf. »Ich ertrage es nicht!« Der Gedanke, dass die Mutter sie für ein leichtes Mädchen hielt, das durch den misslungenen Reinigungseid der Wollust überführt worden war, war nicht auszuhalten. Ja, des unerlaubten Ausritts mochte sie schuldig sein, aber nicht der sündigen Annäherung.
»Ich muss sie von meiner Unschuld überzeugen. Sie muss mir zuhören. Mich in den Arm nehmen. Mir sagen, dass alles nur ein böser Traum war.« Uta schaute an sich hinab. Sie trug noch die Gewänder aus Ballenstedt: das helle, vom Überfall eingerissene Untergewand mit dem blauen Oberkleid. Lediglich mit einem dunklen Umhang hatte man sie hier im Kloster zusätzlich zu ihrem eigenen zugedeckt.
»Ich reite zurück nach Ballenstedt!«, sagte sie entschlossener und schob sich die dunklen Haarsträhnen hinter die Ohren. Sie musste einfach ungesehen in die Gemächer der Mutter gelangen und nochmals mit ihr sprechen. Uta legte sich ihren pelzernen Umhang um, stieg in ein Paar halbhoher Lederschuhe unweit ihrer Bettstatt und spähte aus der Tür. Der Gang war leer. In der Ferne hörte sie den Gesang mehrerer wasserklarer, hoher Stimmen. Auf der Suche nach den Stallungen hielt sie auf den Kreuzgang zu. Der Gesang wurde lauter, er musste demnach aus der kleinen Kirche am Ende des Gangs kommen.
Sie trat in einen Seitengang und gelangte auf den Hof, der einige Nebengebäude mit der Mauer und dem Tor verband. Nur wenige Schritte von einem zweistöckigen Bau entfernt vernahm sie das Schnauben von Pferden und eilte auf dessen Eingang zu. Fahrig schob sie den rostigen Riegel beiseite, trat ein und erblickte drei Pferde und einige Ochsen. Ohne zu zögern, ergriff sie das zunächst neben der Tür liegende Zaumzeug und strich dann einem Braunen über die Blesse. »Wir beide schaffen es bis nach Ballenstedt.« Sie legte dem Tier Zaumzeug und Zügel an und führte es aus dem Stall. Der erdige Boden verschluckte alle Geräusche. Als sie die Klosterpforte hinter sich zuzog, verstummte der Gesang.
Sie saß breitbeinig auf und erinnerte sich an Ernas und Linharts Worte. Immer in Richtung Westen reiten, hatten sie gesagt. Das bedeutete, dass sie nun auf ihrem Weg nach Ballenstedt dem Sonnenaufgang entgegenreiten musste. Die Helligkeit würde sie leiten. »Bring mich zur Mutter«, raunte sie dem Tier zu und straffte die Zügel.
Das Holz der Kiste vor ihnen schimmerte hell. Sie hatten sich zu fünft in der Kapelle versammelt. Der Geistliche sprach über die Heimkehr und Gottfindung und leuchtete dabei mit einer Feuerschale in ihre Gesichter. Ein kindliches Wimmern unterbrach die Stille, dem ein heftiges Schluchzen folgte.
Da betrat eine von ihnen den Burgberg. Den Hengst, der sie an diesen Ort gebracht hatte, band sie an einem Gebüsch nahe der Burgmauer fest. Niemand schien ihr Erscheinen zu bemerken. Sie ahnte nicht, dass sich alle Burgbewohner für einen Moment zurückgezogen hatten. Die einen in die Kapelle, die anderen, das Gesinde und die Wächter, in die Stallungen. Durch die kleine Seitentür, die ihr von der Entführung noch bekannt war, schob sie sich am Mauerwerk hinter den Stallungen in Richtung des Burghofs entlang. Irritiert blickte sie zur mütterlichen Kemenate im Wohnturm hinauf. Dort war das Fensterleder vom Wind nach draußen gezerrt worden und peitschte nun ungeduldig gegen das Mauerwerk. Uta zog sich die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht, senkte den Kopf und eilte auf den Wohnturm zu.
Auf der Höhe der Kapelle, die sich im rechten Winkel ans Wohngebäude des Gesindes anschloss, zögerte sie: In dem kleinen Gotteshaus hörte sie liturgisches Gemurmel zu einer Zeit, die für das Morgengebet zu spät und für das Abendgebet noch zu früh war. Eine unsichtbare Hand zog Uta dorthin, vielleicht, weil die Mutter gerne darin gebetet hatte. Die Tür zur Kapelle war nur angelehnt und drohte, bei der nächsten Bewegung aus der Verankerung zu brechen. Vom hölzernen Dach
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