Die Herrin der Kathedrale
Stimme.
»Wir bringen Uta von Ballenstedt.« Erna lag jedes Wort wie ein Stein auf der Zunge.
Eine Frau mit einem weißen Schleier öffnete das Tor einen Spalt weit. »Uta von Ballenstedt?« Sie schien kurz zu überlegen und blickte sich suchend um. »Sie möge eintreten.«
Uta saß noch immer zusammengekauert auf dem Boden und regte sich nicht.
»Vertrau deiner Mutter, Uta, bitte.« Erna trat wieder auf sie zu. Zögerlich schaute Uta auf. »Glaubt sie auch nicht an meine Unschuld?«
»Davon hat sie nichts gesagt«, entgegnete Erna betroffen.
»Aber bitte, glaube du ihren Worten und vertraue auf das, was sie tut.«
Der Gedanke, dass sie ihrer Familie hier und jetzt entsagen sollte, war unerträglich für Uta. Es war erst wenige Tage her, dass sie glücklich den Duft der Narzissen und des Waldes eingesogen hatte. Und nun sollte sie plötzlich ein völlig anderes Leben führen? Andererseits hatte die Mutter ihr immer geholfen, ihr stets weise Ratschläge erteilt und sie geliebt. Schließlich erhob sich Uta und setzte sich wie ein Geist in Bewegung. Dabei schaute sie Erna bittend, verletzt und gleichzeitig verloren an.
Den Blickkontakt der Freundinnen trennte erst die Klostertür.
»Ihr Bett ist leer?« Graf Adalbert saß von seinem Schlachtross ab und trat in den Gang des Stalles.
Esiko, der gerade erst in der Kemenate gewesen war, in welcher er die kränkelnde Schwester vermutet hatte, nickte. »Ihr Lager ist bereits erkaltet.«
Die Hände in die Hüften gestützt, trat Adalbert vor seinen Ältesten.
Esiko wich einen Schritt zurück.
»Lass die Burg durchsuchen. Sofort!«, befahl ihm Adalbert und stürmte aus dem Stall.
Mit einem Funkeln in den Augen schaute Esiko dem Vater hinterher.
»Hidda, Weib!«, zischte Adalbert von Ballenstedt und hielt auf die Außentreppe des Wohnturms zu.
Die Kammer der Burgherrin war kalt, der Kamin bereits seit einigen Tagen nicht mehr entzündet.
Hidda saß auf ihrer Gewandtruhe vor der Fensterbank und hatte den Blick teilnahmslos auf die umgebenden Wälder gerichtet. Sie zupfte die Saiten der Laute, deren Klänge sie schon in der Kindheit beruhigt hatten. Ihre Mutter Frederuna hatte ihr häufig darauf vorgespielt.
Die Tür der Kemenate wurde aufgeschlagen, und ihr Gatte trat ein. »Wo ist sie?«
Hidda hielt ihren Blick unverändert in die Ferne gerichtet. Statt einer Antwort spielte sie nur heftiger auf der Laute. Empört riss Adalbert ihr das Instrument aus den Händen und warf es auf den Boden, wo es zerbarst. »Ihr habt mir Auskunft zu erteilen, Ihr seid mir angetraut worden!«
Ruhig wendete sich Hidda dem Gatten zu. »Wie könnt Ihr von unserer stotternden Tochter als Beweis ihrer Unschuld einen Eid fordern, der Zögern und Haspler verbietet?« Unter seinem zornigen Blick erhob sie sich und trat vor ihn hin, obwohl sie die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen nur allzu gut zu deuten wusste. Sie schwankte. »Ihr wolltet Uta Gott überlassen? Dann tut es auch jetzt.« Ihre Stimme klang so fordernd, wie niemals zuvor gegenüber dem Grafen.
»Ihr seid genauso ungehorsam wie Eure Tochter!«, zischte Adalbert und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Kraft seines Schlages schleuderte Hidda zu Boden.
»Eure Tochter wird in den Wäldern verenden«, sagte er und schaute auf sie hinab. »Wahrscheinlich aber schmort sie bereits in der Hölle!«
Mit aufgeplatzter Lippe richtete sich Hidda auf und blickte dem Gatten fest in die Augen. Daraufhin trat er so hart nach ihr, wie es die Kraft seines kampfgestärkten rechten Beines nur zuließ.
Mit einem Ausdruck, der weder Schmerz noch Hass, sondern lediglich Befriedigung offenbarte, sackte Hidda von der Lausitz zu Boden. »Sie wird uns beide überleben, Adalbert.«
Da war nichts außer Dunkelheit, aus der Heulen und Zähnegeklapper zu ihr drangen. Da rannten düster gewandete Jungfrauen umher, die von Wunden übersät waren. Wunden, die ihnen fleischfressende Vögel beigebracht hatten. Sie waren Kinder, die den Eltern nicht gehorsam gewesen waren. Andere, schon ältere, zerkauten panisch die eigene Zunge – das waren diejenigen, die ihrem Herrn den Gehorsam verweigert hatten. Niemals schlafendes Gewürm fraß sich durch ihre Eingeweide. Schreiend fuhr Uta aus ihrem Tagtraum hoch. Seit sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in die Krankenkammer gebracht worden war, hatte sie kein Auge zugemacht. Sie schaute sich um. Fünf Betten standen neben dem ihren. Allesamt leer. Weiß getünchte Wände. Die Farbe der Reinheit,
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