Die Herrin der Kathedrale
bedenken und ergriff die Schale, die sie zu Sonnenaufgang gebracht und auf dem Tisch neben der Bettstatt abgestellt hatte.
Uta schaute auf den Hirsebrei. Die roten Mohnblätter, die Katrina liebevoll auf den Rand der Schale drapiert hatte, sah sie nur verschwommen. »Gib es jemandem, der wirklich Hunger hat.« Uta spürte Tränen über ihre Wangen hinablaufen – wie nahezu jeden Tag seit dem Brand – und umklammerte das Bündel Briefe in dem leinenen Band auf ihrem Schoß.
Enttäuscht drehte Katrina sich um, ließ die Schale aber auf dem Tischchen stehen. Bald, so hoffte sie, würde die Herrin wieder Nahrung zu sich nehmen, sonst bräche sie irgendwann zusammen. Mit einem Gebet machte sie sich an die Reinigung der Bettstatt und verließ dann die Kammer.
Seit nunmehr acht Mondumläufen zog sich Uta zur Mittagszeit in ihre Kemenate zurück, setzte sich in die Nische des Fensters, presste Hazechas Briefe – ohne sie jemals zu lesen – vor die Brust und ließ den Tränen freien Lauf, die sie den Vormittag über, während sie sich der Organisation des Burghaushaltes widmete, mühevoll zurückdrängte. Wenn sie abends erschöpft in die Bettstatt sank, quälten sie Alpträume. So sah sie Ernas Kinder von einem Tretrad erschlagen, Arnold aufgespießt auf einer Schaufel hängen und Erna eingemauert in einem Mörteltrog liegen – ähnlich wie Hazecha erstarrt in der Kiste gehockt haben musste, um vom Bruder in der mütterlichen Kemenate nicht entdeckt zu werden. Am schrecklichsten war jedoch der Gedanke, dass sie schuld war. Wenn sie die kleine Lilie nicht mit in ihren Kampf um Gerechtigkeit hineingezogen hätte, wäre sie heute noch am Leben. Dieser Gedanke steckte wie ein Dolch in Utas Brust und fraß sich Tag für Tag mehr in ihr Herz.
Uta starrte auf das Fensterleder neben sich und vernahm die längst vergessenen Worte des Vaters, die er während des Besuchs des alten Meißener Markgrafen durch seine schmalen, farblosen Lippen gepresst hatte: Ich bezweifle, dass ein Weib Kriegsführung und Politik tatsächlich so zu erlernen vermag, wie uns Gott dieses Vermögen von Geburt an mitgegeben hat.
Und mit einem Niemals! hatte Esiko diese Behauptung bestätigt. Sonst würde die von Gott gewollte Ordnung ja auch vorsehen, dass Weiber lernfähig sind. Nachdenklich erhob sie sich von der Fensterbank. »Die von Gott gewollte Ordnung?«, wiederholte sie und legte das Briefbündel an seinen neuen, sichereren Platz in der Gewandtruhe zu der leeren Wachstafel. Sollte die von Gott gewollte Ordnung tatsächlich nicht vorsehen, dass eine Frau Wissen erlangte? Und blieb es einer Frau deswegen versagt, den Bau eines Gotteshauses zu unterstützen? Verzweifelt barg Uta das Gesicht in den eiskalten Händen. Indem sie sich Wissen angeeignet hatte, hatte sie versucht, die von Gott gewollte Ordnung zu verändern! Dies erklärte all das Unglück, das über Naumburg gekommen war und ihr schließlich auch Hermann genommen hatte. »Meister Tassilo, verzeiht mir«, hauchte sie und ihre Tränen flossen heftiger. In ihrer Blauäugigkeit hatte sie gehofft, in den Büchern Antworten auf ihre Fragen zu finden. Aber Fragen, das wurde ihr in diesem Moment klar, wurden nicht durch Geschriebenes, sondern durch das Leben selbst beantwortet, und ihr Leben spie die Antwort förmlich aus: Du wolltest dir Wissen aneignen, um Gerechtigkeit herbeizuführen, und hast dafür rücksichtslos zwei Menschen geopfert und damit auch den Traum Hermanns zerstört!
Sowieso war alles anders gekommen. Es hatte weder ein kaiserliches Gericht noch eine Anklage vor diesem gegeben. Der Kaiser war zum Fest von Christi Geburt nicht nach Naumburg gereist, die Durchsetzung des mit König Rudolf III . geschlossenen Erbvertrages, so hatte er per Boten mitgeteilt, hielten ihn noch immer in Burgund. Die Mehrzahl der Kämpfer hatte Naumburg gleich nach der Messe zu Allerheiligen verlassen. Die meisten waren über den Winter zu ihren Familien zurückgekehrt, einige von ihnen dem Kaiser nach Burgund gefolgt. Die Baustelle war seitdem verwaist. Nachdem Hermann in den Kreis der Benediktinerbrüder im Georgskloster aufgenommen worden war, hatten Ekkehard und Bischof Hildeward gemeinsam entschieden, die Aktivitäten am Bau ruhen zu lassen, so dass die Handwerker mit Beginn des Frühjahrs zu anderen Baustellen im Reich aufgebrochen waren.
Verzweifelt raufte Uta sich die Haare. All dieses Unheil hatten ihr Streben nach Wissen und ihre Mithilfe am Bau heraufbeschworen. Wegen dieser Sünden
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