Die Herrin der Kathedrale
jüngsten Ereignisse zurück: Vierzig Männer hatten fünf Tage lang das gefrorene Erdreich vor den Fundamenten der Westwand aufgeschlagen. Das Ergebnis ihrer Mühen hatte sich noch gestern Abend wie ein Lauffeuer auf dem Burgberg herumgesprochen: Der Boden, auf den die Fundamente für den Westchor und die Westtürme gesetzt worden waren, bestand nicht wie beim Rest der Mauern aus felsigem Untergrund, sondern lediglich aus Lehm. Niemals sollte ein Werkmeister die Steine direkt auf einen solchen Untergrund setzen. Eine der ersten Regeln, die Meister Tassilo sie gelehrt hatte, besagte, dass erdige Böden nach einer zusätzlichen Stütze des Fundaments mittels Holzpfählen verlangten, die ähnlich einer Palisade in den Boden gerammt wurden, und dass erst auf diese die Steinschicht aufgesetzt werden durfte.
»Bitte stell die Schüssel ab, Katrina«, bat sie, erhob sich und lehnte sich nachdenklich an den kleineren Schreibtisch. Sie hätte die Überwachung des dritten Bauabschnittes niemals ausschließlich in die Hände Falks von Xanten legen dürfen, während sie gezeichnet und geplant hatte. Ein einziger Werkmeister vermochte Dinge zu übersehen, zwei hingegen ergänzten sich in ihrem Wissen – das wurde ihr in diesem Moment klar. Und was sie wusste, war: Prüfe die Beschaffenheit des Untergrundes für jedes Bauteil einzeln, bevor du über die Art des Fundamentes entscheidest. Für das Fundament der Westwand waren ganz klar verstärkende Holzpfähle notwendig. Am besten aus hartem Erlenholz, doch das wollte erst einmal beschafft sein. Uta seufzte erneut, denn in den Wäldern, für die sie das Rodungsrecht besaßen, gab es weit und breit keine einzige Erle. Selbst wenn sie diese von irgendwo herbekämen, bestünde die nächste Herausforderung darin, die Holzpfähle mittels eines Stützgerüstes nachträglich unter das Mauerwerk zu setzen.
Frustriert griff Uta nach einem der Pergamente zu ihren Füßen. »Woher soll ich nur in so kurzer Zeit all die Arbeiter dafür hernehmen?«, fragte sie sich und umkreiste dabei mit dem Zeigefinger die Zahlen auf dem Pergament, die sie über Nacht errechnet hatte und die einen erschreckenden Ausblick auf die zusätzlich benötigten Materialien und Handwerker offenbarten.
»Was ist das?«, fragte Uta, als sie Rufe zu hören glaubte.
»Die kommen von draußen, Gräfin«, meinte Katrina und öffnete das Fenster, durch das sofort eisige Kälte in die Turmkammer drang.
Uta blickte an den schneebedeckten Burgmauern entlang.
»Warum ist das äußere Tor am helllichten Tage verschlossen?«, fragte sie dann irritiert und vernahm beim nächsten Atemzug erneut Rufe, die aus Richtung der Zugbrücke zu kommen schienen. »Ich werde nachsehen!«, erklärte sie kurz entschlossen und lief hinaus. Katrina griff nach Utas wollenem Umhang, legte sich den eigenen um und folgte ihr.
Vor den Winden, auf denen die Ketten der Zugbrücke aufgewickelt waren, war ein heftiges Wortgefecht in Gange. Als Uta sich näherte, löste sich die Gruppe von Wachhabenden und Handwerkern widerstrebend auf.
»Öffnet das Tor! Wir wollen helfen!«, erklangen fordernde Rufe von der anderen Seite.
»Matthias, was ist hier los?«, fragte Uta und legte sich den von Katrina hingehaltenen Umhang um.
»Sie sollen die Zugbrücke herunterlassen!«, forderte Matthias aufgewühlt und warf dem Torwächter einen wütenden Blick zu.
»Aber Meister Falk wies uns an, niemanden hereinzulassen, damit nicht zu viele Menschen auf der Baustelle herumlaufen.
Er wollte ungestört arbeiten«, rechtfertigte sich dieser.
»Öffnet das Tor! Wir wollen helfen!«, wurde der Chor vor den Mauern der Vorburg immer lauter.
»Wo ist Meister Falk?«, fragte Uta streng. Mussten jetzt auch noch Streitigkeiten unter den Burgleuten die angespannte Situation belasten?
Ahnungslos zuckten die Umstehenden die Schultern.
»Öffnet das Tor!«, wies Uta daraufhin an.
Unter dem Quietschen der Ketten wurde die Zugbrücke heruntergelassen.
»Wir wollen helfen!«, tönte es weiter von den vermeintlichen Störenfrieden, die durch das Tor an Uta vorbei in die Vorburg drängten.
Uta war sprachlos, als sie mehr und mehr Menschen sah, die über die Zugbrücke liefen und nun auf die Kathedrale zuhielten. Wie Ameisen verteilten sie sich auf Meister Joachims Anweisungen hin an der Westwand. Uta meinte unter ihnen Männer in feinen Gewändern, Alte und sogar Kinder auszumachen.
Da trat Matthias neben sie. »Sie wollen es nur für Gotteslohn tun, Gräfin.«
Das war
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