Die Herrin der Kathedrale
Begleiter vor Uta.
»Also sind die Mauern im Langhaus, im Querhaus und am Ostchor verschont geblieben?«, fragte sie.
»Nur die Westwand scheint gerissen.« Meister Joachim verfiel ins Grübeln.
»Das Gleiche bei mir. Keine weiteren Risse. Damit ist tatsächlich«, Uta lächelte resigniert, bevor sie das erste Wort des folgenden Satzes über die Lippen brachte, » nur die Wand zwischen Westchor und den Westtürmen betroffen.«
Zurück an jener Westwand begutachteten sie die Risse erneut.
»Ich verstehe das nicht. Die unterste Fundamentmauer hier war in Waage. « Sie erinnerte sich an jenen Tag vor über drei Jahren, an dem Wigbert auf der Baustelle erschienen war und ihr die Hölzer gereicht hatte. »Das habe ich mit eigenen Augen gesehen, und auch das darauf aufliegende Mauerwerk habe ich gemeinsam mit Meister Falk geprüft. Es war genauso stabil wie das im Ostchor. Was können wir nur tun, um die Wand zu sichern? Wie können wir verhindern, dass der Chor und die Türme einstürzen und dadurch vielleicht sogar noch das Langhaus in Mitleidenschaft gezogen wird?«, fragte Uta verzweifelt und presste die Lippen zusammen.
Meister Joachim deutete auf den Boden vor der Mauer: »Wir müssen den Boden aufgraben und dort nach Gründen suchen.«
Uta blickte in den sternenklaren Himmel. Mussten die Risse ausgerechnet jetzt auftauchen, wo der Winter die Arbeit sowieso schon erschwerte? Sie konnte den Handwerkern und Helfern nicht noch mehr Einsatz abverlangen, als diese mit der Nachtarbeit schon erbrachten. Und weitere heiße Kräuteraufgüsse oder warmes Bier würden auch nicht helfen, um sie noch weiter anzuspornen.
Meister Joachim trat vor Uta und deutete auf den Boden vor der Mauer. »Wir müssen es tun, Gräfin!«
Niedergeschlagen trat Uta vor die Handwerker. »Wir werden unverzüglich damit beginnen«, verkündete sie, »die Fundamente der Westwand freizulegen.«
Die Augen der Handwerker weiteten sich.
»Aber der Boden ist gefroren und so hart wie Stein, das macht keinen Sinn«, warf da Falk von Xanten ein, der auf einmal zwischen den Handwerkern erschienen war.
Überrascht blickte Uta den Werkmeister an. »Es gibt keine andere Möglichkeit, um die Ursache für die Risse herauszufinden«, erklärte sie und wünschte sich, Meister Tassilo und Hermann wären an ihrer Seite, um ihr in dieser schlimmen Nacht beizustehen.
Unter den Blicken aller Versammelten trat Falk von Xanten daraufhin vor Uta und Maurermeister Joachim: »Das kann ich den Leuten hier nicht zumuten. Sie sind ja jetzt schon völlig erschöpft.« Zustimmung heischend drehte er sich zu den Handwerkern hinter sich um.
»Ihr wollt bis zum Frühjahr warten?«, fragte Uta irritiert.
»Aber dann schaffen wir es niemals bis zum Fest des heiligen Petrus und Paulus!«
»Kommt Männer«, meinte Joachim, als Falk von Xanten darauf keine Entgegnung hervorbrachte. »Ein jeder greift sich eine Spitzhacke. Die rechtzeitige Fertigstellung der Kathedrale steht auf dem Spiel! Wenn wir jetzt verzagen, waren mehr als neun Jahre Arbeit umsonst!«
Daraufhin schauten die Handwerker zuerst Falk von Xanten und dann Meister Joachim an.
Uta hielt die Luft an. Sollte es hier und jetzt zu einer Verweigerung kommen, war alles verloren, und der Bischofssitz würde nach Zeitz zurückverlegt werden. Und so stellte sie sich im Flackerlicht der Kienspäne an die Seite von Meister Joachim und sah den zuvorderst stehenden Handwerkern hoffnungsvoll in die Augen. Einer nach dem anderen setzte sich darauf in Gang und trat an Falk von Xanten vorbei auf den Maurermeister zu.
Erleichtert atmete Uta auf. »Ich werde weitere Karrendienstler herschicken«, versicherte sie und nickte Meister Joachim dankbar zu. Sollten sie aufgrund des gefrorenen Bodens jedoch nicht an die Fundamente herankommen, würde ihnen nur noch ein Wunder helfen.
»Gräfin? Ich bringe Euch das Frühmahl.« Katrina beugte sich mit einer Schüssel in der Hand hinab und strich Uta über die Schulter, die inmitten eines Bergs von Pergamenten schlafend auf dem Boden lag.
»Haltet die Wand!«, fuhr Uta auf ihre Berührung hin erschrocken hoch und blickte sich orientierungslos um. Ihr Atem ging heftig.
»Ihr seid in der Turmkammer«, versuchte Katrina sie zu beruhigen und wies auf die beiden Schreibtische hinter ihnen. Verschlafen schaute Uta sich um und nickte schließlich. Beim Anblick der Pergamente seufzte sie. Sie wünschte sich, die nächsten Mondumläufe bereits überstanden zu haben, und dachte an die
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