Die Herrin der Kathedrale
den Mund. Sie spürte keinen Luftzug. »Schwester Uta, holt Pater Wolfhag!«
Uta erstarrte. »Den Pater?«
Geräuschlos erhoben sich die anderen Sanctimonialen und scharten sich um den Ort des Geschehens.
»Herrgott, was ist passiert?«, stieß Notburga mit ängstlichem Blick auf ihre Schwester aus.
»Uta!«, bat Alwine energischer. »Schnell!«
Daraufhin rannte Uta los und kam kurz darauf schwer atmend mit dem Pater des Stifts an ihrer Seite zurück.
»Ihr Körper ist noch warm«, sagte er, nachdem er mit ähnlichen Handgriffen wie Alwine die Atmung und den Herzschlag Hathuis überprüft hatte.
Blankes Entsetzen trat auf Utas Miene. »Noch warm? Aber warum soll er denn …?«
»Bitte haltet noch etwas aus, Schwester«, sagte der Pater an Bebette gewandt. »Wir müssen Schwester Hathui hinlegen.« Pater Wolfhag breitete sein Messgewand auf dem Boden aus und bettete den leblosen Körper darauf.
»War… wart… wartet«, sagte Uta und trat an Radegunde vorbei neben den Pater. »Ihre Lippen zucken. Seht Ihr nicht?«
Der Pater hob den Kopf der Äbtissin vorsichtig an.
Hathui blinzelte. »Herrgott vergib mir meine Sünden«, sagte sie kaum hörbar, öffnete dann die Augen und schaute Alwine und Pater Wolfhag an. An alle Sanctimonialen gerichtet, begann sie darauf, Worte des Dankes zu flüstern, Worte der Segnung und äußerte zuletzt den Wunsch, endlich vor den Herrn treten zu dürfen. Jedes Wort strengte sie sichtlich an. Schließlich verweilten ihre müden Augen auf Uta. »Traut Euch, sie loszulassen und neue Wege zu gehen.«
Uta wusste, dass die Äbtissin von ihrer Mutter sprach. Sie war ergriffen und führte ihr Ohr ganz nah an den Mund der Sterbenden. »Die Bücher mögen Euch dabei helfen«, hauchte die Äbtissin und schloss die Augen.
Uta drückte die Hände der alten Frau und schaute hilfesuchend zu Alwine auf. »Bitte rettet sie!«
»Nicht wir erretten, Schwester«, erklärte Pater Wolfhag und schob sie zur Seite. »Sondern der Herrgott.« Er wandte sich an Alwine: »Holt das Öl und das Versehbesteck aus der Kapelle. Wir müssen den Versehgang durchführen.«
»Ver… Versehgang?« Utas Kehle fühlte sich plötzlich ganz trocken an. Sie hatte noch nicht einmal den Verlust der Mutter verarbeitet und sollte nun einen weiteren erfahren? Alwine erhob sich, nickte Uta betreten zu und rannte aus dem Saal.
Hathuis Lippen bewegten sich kaum merklich. Die Sanctimonialen versammelten sich eng um die Stiftsoberin. Pater Wolfhag sprach ein Gebet, das die Mädchen mitsprachen. Alwine erschien mit den geforderten Gegenständen. »Ich habe die Schale noch schnell reinigen können.«
»Die Buße hat sie gerade geleistet«, sagte der Pater. »Damit ist ihre Taufunschuld wiederhergestellt, wenn sie gleich vor den Herrn tritt.«
»Nein!«, rief Uta verzweifelt und kniete neben dem leblosen Körper der Äbtissin nieder. »Sie, sie da… da… darf noch nicht vor den Herrn treten.«
Notburga grinste und äffte Utas Stottern nach. »Da… da… das bestimmt sicherlich nicht Ihr!«
»Schwestern, beruhigt Eure Gemüter«, ermahnte sie der Pater. »Ich salbe jetzt ein letztes Mal ihre Sinne.« Daraufhin tauchte er seinen Zeige- und Mittelfinger in die irdene Schale mit Öl und strich dann das Kreuzzeichen auf Augen, Ohren, Nase und Schultern der Sterbenden. »Sie lächelt, als ob sie das Licht des Herrn schon leuchten sieht.« Der Geistliche tauchte die Hostie in dunklen Wein, bevor er das Weizenmehlgebäck mit den Fingern zerrieb. »Nehmt noch die Wegzehrung für das Jenseits«, wies er die Liegende an und drückte ihr die Krümel der Hostie zwischen die ausgetrockneten Lippen. Die Sterbende nahm die Bröckchen vom Leib Christi auf und lächelte. Dann kippte ihr Kopf kraftlos zur Seite. Hathui Billung entschlief friedlich im Kreise ihrer Zöglinge. Bis zu diesem Tag hatte der Herrgott ihrer Seele mehr als achtzig Sommer geschenkt.
Nach einer Weile vollkommener Stille schloss Pater Wolfhag der Verstorbenen Augen und Mund. »Öffnet die Fenster. Ihre Seele soll auf direktem Wege aufsteigen.« Zwei Schwestern leisteten seiner Anweisung Folge.
Benommen verfolgte Uta das Geschehen und ergriff Alwines Hand, die neben dem Pater stand und das leere Schälchen mit dem Öl aufgenommen hatte.
Pater Wolfhag erhob sich. »Schwester Alwine, bitte nehmt heute noch die Waschung und Einkleidung vor. Damit wir schon morgen die Totenmesse lesen können.«
Alwine bestätigte die Bitte mit einem Nicken.
Daraufhin trat Notburga
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