Die Herrin der Kathedrale
für die gleichmäßige Schönheit der Formen fehlt vielen Schreibern.«
Radegunde stupste Uta aufmunternd an, die daraufhin mit einem Leuchten in den Augen meinte: »Ich will es versuchen, Schwester Hathui.«
»Reicht mir doch den Hortulus und dann tretet vor mich.«
»Den Hortulus? «
»Das Buch Von der Pflege der Gärten wird auch Hortulus genannt«, erklärte Hathui. »Die Schwestern aus Vreden wünschen es zurückzubekommen. Ich möchte aber für unsere Bibliothek und auch für Schwester Alwine den Zugriff auf seinen Inhalt erhalten.«
Uta ergriff das Buch mit dem einzigartigen Perleneinband. Noch am selben Abend des Tages, an dem sie das Blumenmotiv vor beinahe einem halben Jahr zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihrem Wachspüppchen davon erzählt. Sie erinnerte sich, dieses Werk auf ihrer Archivliste an erster Stelle notiert zu haben, und legte es nun vor die Äbtissin auf das Pult.
»Beim Schreiben arbeitet der gesamte Körper«, erklärte Hathui. »Am besten schreibt Ihr im Stehen. So erhalten Eure Buchstaben geradlinigere Formen als in der eingeschränkten Sitzhaltung.« Die Äbtissin schob Uta zwischen sich und das Pult und prüfte hinter ihr die Haltung ihres Rückens. »So, jetzt stellt Euch den Kiel und das Tintenfass zurecht. Ihr müsst stets ungehinderten Zugriff darauf haben.« Als Nächstes zog sie zwei Lagen Pergament unter dem Gewand hervor und legte sie unter das zu kopierende Buch.
Uta schlug den Deckel auf und las: »Von der Pflege der Gärten.«
»Bevor Ihr mit der Abschrift beginnt, Schwester«, erklärte die Äbtissin und blätterte die erste Pergamentseite um, »begutachtet äußerst genau die Buchstaben des Wortes Salvia.« Ihre Finger schoben sich von hinten an Uta vorbei und zeigten auf die oberste Zeile.
Uta führte das Gesicht ganz nah vor das Pergament. Der Salbei war die erste Pflanze auf der Liste des Abtes, gefolgt von Weinraute, Eberraute und Wermutskraut.
»Seht Ihr, wie gleichförmig die Ober- und Unterlängen der Buchstaben geschrieben stehen? Und wie sauber sich das Wort von dem nachfolgenden absetzt?«
Uta nickte fasziniert. Durch den Kontrast, der sich durch eine feine und eine fettere Linienführung ergab, vermochte sie den ersten Vers fließend zu lesen und problemlos zu übersetzen:
»Vorn an der Stirn des Gartens blüht leuchtend der Salbei, der süß duftet, bedeutende Kraft besitzt und heilsamen Trank gewährt.« 1
»Eure Schrift wird noch lesbarer, wenn Ihr Euch streng an die vier Linien auf dem Pergament haltet.«
»Die Linien?« Utas Blick glitt unsicher über das anscheinend leere Pergament vor sich.
»Schaut etwas genauer hin, Schwester. Auf dem Pergament sind die Ober- und Unterlinien bereits vorgezogen. Sie geben Euch Orientierung.«
Uta schob die Talglampe näher an das Pergament. Und tatsächlich: Im Lichtschein schimmerten die farblosen, hauchdünn eingeritzten Zeichenhilfen wie Sonnenstrahlen zu viert in jeder Zeile.
»Am besten schreibt Ihr, ohne irgendwelche Schnörkel zu machen. Verzichtet auf jegliche Verzierung im Geschriebenen. So lässt es sich am einfachsten lesen.«
»Und das ist ja der Sinn von Büchern«, ergänzte Uta gelehrig. Sie löste ihren Blick von den Blindrillen und schaute zu Äbtissin Hathui auf.
»Nun versucht es selbst. Ich würde mir Eure erste Schriftprobe gerne schon morgen ansehen. Kommt nach dem Mittagsgebet in meine Kammer. Dort werde ich Euch sicherlich noch einige weitere Hinweise geben können.«
Uta ergriff den Kiel. »Danke, Schwester Hathui.«
Die wachen Augen der Äbtissin weilten einen Augenblick intensiv auf dem Gesicht ihrer verschlossensten Sanctimonialen. »Und, Schwester Uta, vielleicht wollt Ihr dann auch mit dem Suchen beginnen, wenn Ihr schon einmal bei den Büchern seid.« Mit einem Segensspruch verließ sie die Kammer. Uta schaute der Äbtissin verwundert nach. Was wusste Hathui Billung von ihrer Suche nach Antworten, von dem Verbrechen innerhalb ihrer Familie und ihrem Schwur, das der Mutter angetane Unrecht zu bestrafen?
»Wonach sollt Ihr suchen?«, fragte Radegunde, als die Schritte der Äbtissin verklungen waren.
»Ich suche«, begann Uta ihre Antwort zögerlich. »Ich suche nach Gerechtigkeit.«
Radegunde wischte einige Dreckkrümel auf dem vor ihr liegenden Pergament beiseite. »Aber die Gerechtigkeit verkünden allein Gott, das königliche Gericht und dessen Sendboten.«
»Sendboten?« Uta wurde hellhörig.
»Das sind die Vögte und Grafen, die dem König unterstehen«,
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