Die Herrin der Kathedrale
hervorhingen.
»Seit wenigen Jahren«, erklärte sie den schwarzgewandeten Damen an der Tafel ihre zukünftig zu erwartenden längeren Abwesenheitszeiten, »trage ich als Äbtissin auch noch die Verantwortung für die Stifte in Frose und Vreden.« Ihr Blick blieb kurz an Alwines dunkler Haut hängen, bevor sie fortfuhr, über die restlichen von Schleiern eingehüllten Gesichter zu schweifen: »Die wichtigste Pflicht wurde mir jedoch mit dem Quedlinburger Damenstift übertragen. Die Tage, die mir für Eure Ausbildung verbleiben, werden daher selten sein.« Sie umfasste ihr Szepter, einen schlanken hellen Holzstab, der mit Goldblechstreifen beschlagen war und in einer dreiblättrigen Lilie – das Zeichen königlicher Jungfräulichkeit – auslief.
Uta sah von ihrem Buttersud auf. Aus Vreden hatte Schwester Hathui einst das Buch Von der Pflege der Gärten, die Vorlage von Utas erster Abschrift, als Leihgabe erhalten. Dennoch beschlich sie beim Anblick der Äbtissin, die schnell und ohne eine zuvor abgehaltene Wahl eingesetzt worden war, ein mulmiges Gefühl. Die neue Äbtissin hatte nicht gezögert, die Tafel mit erlesenen Speisen zu bestücken, obwohl die Fastenzeit erst mit dem morgigen Tag endete.
Alwine, die sich als kurzzeitige Vorsteherin den Respekt der meisten Schwestern erworben hatte, erhob sich. »Verehrte Äbtissin, wir heißen Euch heute, am Nachmittag vor dem Auferstehungsfest Christi, herzlich willkommen und möchten die Gelegenheit dieser Totenfeier nutzen, uns noch einmal bei Schwester Hathui zu bedanken.« Die Sanctimonialen wandten sich gedanklich der Verstorbenen zu, deren Leichnam vor dem Heilig-Kreuz-Altar der Stiftskirche in den Boden gesenkt und danach mit einer steinernen Platte bedeckt worden war.
Das Amen der Sanctimonialen auf der Empore war noch nicht verklungen, da klopfte Adelheid mit ihrem Lilienszepter auf den Boden.
Die Sanctimonialen schauten sofort auf.
»Ich weiß, dass meine Vorgängerin unter der Institutio Sanctimonialium nur wenige Ausnahmen von der Benediktregel zuließ«, verkündete Adelheid. »Ich schätze hingegen das ungezwungene Leben auch hinter heiligen Mauern. In meinen Stiften ist es daher üblich, sich Dienerinnen zu nehmen und den Untergebenen im Haushalt zu befehlen. Schließlich werdet Ihr dies als Gattin eines einflussreichen Herrn später ebenso tun müssen.«
Radegunde und Klara schauten erschrocken auf. Uta und Alwine vermochten nur ungläubige Blicke untereinander auszutauschen.
»Deswegen gedenke ich, den Unterricht in der Heiligen Schrift durch Unterweisungen in höfischen Umgangsformen zu ersetzen«, sagte Adelheid weiter.
Stille herrschte auf der Empore. Uta meinte, das Knistern der Dochte der Bienenwachskerzen auf dem fernen Altar zu hören.
»Als Erstes erlaube ich Euch, den Schleier abzulegen. Wie ich bereits betonte, seid Ihr keine Bräute Christi, sondern weltliche Damen, die ihr Haar zum Gefallen aller in der Öffentlichkeit zeigen können.«
Notburga und Bebette lachten freudig auf, verstummten aber sofort wieder, als der strenge Blick der Äbtissin sie erfasste. Uta hingegen empörte sich im Stillen. Sie suchte keinen Gatten und musste ihr Haar deshalb auch nicht zur Schau stellen. Sie verstand das alles nicht! Warum wollte die neue Äbtissin die Ideale Hathuis abschaffen? Warum sollten die Unterweisungen in der Heiligen Schrift eingeschränkt werden? Ließen sich daraus nicht am trefflichsten die Tugenden einer Dame ableiten? Gedankenversunken glitt Uta das Messer aus der Hand und fiel klirrend auf den Steinboden der Empore. Sofort drehte sich die Äbtissin in ihre Richtung. Uta wagte keine Regung.
Da zog Notburga an der gegenüberliegenden Seite der Tafel die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich ohne Aufforderung erhob. Das Erstaunen der Mitschwestern genießend, band sie sich den Schleier ab und hob stolz den Kopf. In dieser Haltung fuhr sie sich mit den Fingern durch das hüftlange Haar und schüttelte es, so dass es ihr wie ein Wasserfall den Rücken hinabfiel. Endlich durfte sie es zeigen.
»Was tut Ihr da, Schwester?«, empörte sich Alwine, während sich Pater Wolfhag bekreuzigte.
Anstatt zu antworten, blickte Notburga Bebette auffordernd an. Mit einem Lächeln erhob sich nun auch die jüngere Hildesheimerin und löste in gleichsam betörender Weise den Schleier. Wie ein widerwärtiges Insekt ließ Bebette den Schleier zu Boden fallen und ordnete anschließend ihr langes, blassblondes Haar mit den Fingern.
»Hört auf
Weitere Kostenlose Bücher