Die Herrin der Kathedrale
wenn unsere Heiligkeit anders als der Erzbischof entschiede.«
»Wenn dies einträfe, Hoheit, müsste Exzellenz Aribo von Mainz sein Urteil revidieren.«
»Das ist eine gute Chance für Irmingard.« Das Gesicht der Herzogin hellte sich auf. »Wenn sich zwei Menschen in ehrlicher Liebe zugetan sind, kann die Ehe von Gott nur gewollt sein – und eine solche sollte ein Kirchenfürst nicht lösen dürfen.« Gisela schaute vom Garten zum fernen Palas, in dem sich ihre Gemächer befanden.
Uta blickte zu Boden. Was mochte ehrliche Liebe sein?
»Ich denke«, sagte die Herzogin, »wir sollten bei der nächsten Lesung wieder über Fragen des Kirchenrechts diskutieren. Mit welchem Thema wir uns dann beschäftigen, überlasse ich Eurer Wahl.«
Die Herzogin wünschte, dass sie die nächste Lesung gestaltete? Uta spürte einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen. »Sehr gerne, Hoheit.«
»Gut, dann lasse ich gleich ein Schreiben an Irmingard von Verdun aufsetzen. Entschuldigt mich.« Gisela schritt mit wehendem Haar aus dem Ruhegarten.
Uta nahm den Hortulus von der Rasenbank und atmete zufrieden durch. »Mutter«, flüsterte sie und spürte dabei die Strahlen der Sonne wie Streicheleinheiten auf dem Gesicht.
»Ich kann für Euch den Herzog von Sachsen Recht sprechen lassen.« Mit diesen Worten verließ auch sie den Garten.
Auf dem Weg in den Haupthof begegnete ihr eine Schar Ritter. »Holde Dame, lasst mich Euer Haar berühren!«, sagte der Kleinste der Kämpfer und streckte begehrlich den Arm nach ihr aus.
Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, blickte Uta flüchtig zu der Gruppe hinüber und nahm den Geruch von Leder und Schweiß wahr, der bis zu ihr drang. Da riechen die alten Pergamente doch um ein Vielfaches besser, dachte sie und ging im Kopf bereits die Inventarlisten mit den jüngst erhaltenen Abschriften durch, die inzwischen ein ganzes Verzeichnisbuch füllten und sicherlich ein interessantes Thema für die nächste Lesung mit der Herzogin enthielten.
In der Pergamentenkammer angekommen, wuchtete sie den Deckel der Truhe mit den Schriften zum Kirchenrecht auf und blickte auf zwei Stapel mit Konzilienbeschlüssen und Verfügungen, die neben der Heiligen Schrift die Grundlage für kirchenrechtliche Normen darstellten. Auch wenn die vom Papst einberufene Bischofsversammlung, das Konzil, selten stattfand, verfasste es dafür umso umfangreichere Beschlüsse. Die Abschrift des vorletzten Konzils, die Uta gerade aus dem rechten Stapel hervorzog, enthielt mehr als fünfzig beschriebene Seiten. Die Verfügungen, mit denen der Papst die weniger ausführlichen Antworten auf ihm gestellte Fragen als Erlass im Reich verkünden ließ, lagen linker Hand in der Truhe. Nach Utas Sortierung trugen sie in der Inventarliste die Kennzeichnung K für Kirchenrecht und besaßen seit jüngstem eine durchlaufende Nummer.
»Hier ist das Pergament nicht«, sagte sie, nachdem sie das zuletzt studierte Dekret überflogen hatte. Sie erhob sich und trat vor eine weitere Truhe, in der sich das neu eingetroffene Material befand, das sie bereits oberflächlich gesichtet, aber noch nicht numeriert und archiviert hatte. Vielleicht war die Schrift, nach der sie suchte und von der sie Gisela erzählt hatte, hier mit dabei. Sie griff nach dem obenauf liegenden Hoftagsprotokoll Kaiser Ottos III . mit den Anrufungsgründen an den Papst. Ja, das ist es!, durchfuhr es sie. Voller Freude kniete sie nieder und legte die Hand an die rechte Brust. »Mutter«, flüsterte sie. »Ich spüre, wie Ihr mich lenkt. Ihr seid bei mir, ganz nah.«
Der frühzeitige Wintereinbruch machte den Aufenthalt in den unbeheizten Kammern der Burg schwer erträglich. Bank und Schemel um ein Kohlebecken gestellt, hatten sich die Hofdamen in Utas und Adrianas Kemenate versammelt. Die dicke Schneeschicht auf den Fensterpergamenten ließ kaum Tageslicht nach innen dringen.
»Theophilus war der Vicedominus«, las Mechthild, ein Buch auf den Schoß gebettet, mit der tiefen Stimme eines Märchenerzählers vor. »Alles Volk hing in einmütiger Ergebenheit mit herzlich-zärtlichem Wohlwollen an ihm, liebevoll verehrten sie ihn wie einen süßen Vater.« 8 Die Hofdame fuhr mit den Händen verheißungsvoll durch die Luft. »Ein Vicedominus ist ein Statthalter geistlicher oder weltlicher Herren«, erklärte sie.
»Das ist so schön«, beteuerte Adriana und lehnte sich entspannt zurück. »Roswitha von Gandersheim ist eine wahrhafte Verskünstlerin.«
»Lest weiter!«, forderte
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