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Die Herrin der Kathedrale

Die Herrin der Kathedrale

Titel: Die Herrin der Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Beinert , Nadja
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Nah-Ehe-Zählung erklärt hatte. »Ich erwarte Euch dann heute Abend, Uta von Ballenstedt.« Mit diesen Worten verließ Gisela von Schwaben die Kammer.
    Als die Schritte der Herzogin auf der Treppe verklungen waren, begab sich Uta zur Pergamentenkammer. Beinahe täglich trafen aus den umliegenden Klöstern und entfernten Kanzleien Textabschriften in der herzoglichen Schreibstube ein, die sortiert und systematisch abgelegt werden sollten. Mit ihr zusammen betrat ein herzoglicher Schreiber die Pergamentenkammer, in die sich eher selten Besucher verirrten, denn die Schreiber hielten sich vornehmlich in der Schreibstube auf. Sie suchten die Kammer nur hin und wieder auf, wenn sie Pergamente zur Ablage brachten. Auf eine Ecke des bereits von Schriften überquellenden Schreibtisches legte der Schreiber einen weiteren Packen Dokumente ab, der bedrohlich zu wanken begann.
    Sofort schlang Uta die Arme um den Stapel. »So viele weitere Schriften!«, staunte sie zugleich und schaute zwischen zwei Stapeln hindurch. Die herzogliche Pergamentenkammer war mindestens dreimal so groß wie die in Gernrode, viel höher und nochmals reicher mit Pergamenten ausgestattet.
    »Das dürfte dann auch die letzte für heute sein.« Der Schreiber zeigte ausdruckslos auf eine weitere Truhe, die von einem Knecht hereingetragen wurde. Beim Abstellen der Truhe segelten die oben aufliegenden Pergamente auf den Lehmboden. Sofort sprang Uta auf, verhedderte sich aber im Saum ihres Kleides und stürzte zu Boden. Kopfschüttelnd stand sie auf und klopfte sich den Staub vom Kleid. Dann hob sie die Pergamente vorsichtig mit der Hand auf, als ob sie aus zerbrechlichem Blattgold wären, und trug sie vor sich her zum Schreibtisch.
    »Morgen schaffen wir noch zwei weitere Truhen aus dem Keller herauf«, erklärte der Schreiber seufzend.
    »Vielen Dank«, sagte Uta und ließ die Pergamente anmutig von ihren Handflächen auf den Schreibtisch gleiten, um dann vorsichtig den Staub von ihnen zu pusten.
    »Das Zweitmahl ist für den Beginn der Dämmerung angekündigt. Gönnt Euch doch zumindest eine kurze Pause, um zu essen«, schlug der Mann vor, während er seufzend die Pergamenthaufen musterte.
    Wie zur Mahnung grummelte es in diesem Moment in Utas Magen. »Ich möchte der Herzogin die Inventarlisten für die ersten beiden Kisten heute noch vorlegen«, antwortete sie und wandte sich erneut den Pergamenten zu.
    Der Schreiber verließ schulterzuckend die Kammer.
    Uta hob die soeben abgelegten Blätter vorsichtig an und zog eine Pergamentsammlung darunter hervor, die in Buchdeckel aus Elfenbein gebunden war. Vorsichtig schlug sie den Deckel auf. Als sie ansetzte, die ersten Worte zu lesen, spürte sie ein Prickeln in den Fingerspitzen. »Eine Abschrift des zweiten Konzils von Nicäa!« Sehnsüchtig fuhr sie mit dem Zeigefinger die Buchstaben nach. Die Abschrift verwies auf eine mehr als zweihundert Jahre zurückliegende Beratung der geistlichen Führung nahe der Stadt Konstantinopel. Wenn sie doch nur jetzt schon Zeit hätte, weiter in ihr zu lesen.
    »Uta, reiß dich zusammen!«, ermahnte sie sich, zog den Hocker heran und griff nach der Inventarliste. Genauso wie sie es in Gernrode von der Äbtissin gelernt hatte, notierte sie Titel sowie Verfasser, Jahr und Herkunftsort und legte das elfenbeinerne Buch dann zu einigen anderen Schriften in die Ecke links neben der Tür – dem vorläufigen Sammelort der Bücher über das Kirchenrecht. Den anderen drei Ecken der Kammer hatte sie ebenfalls themengerecht sortierte Bücher zugewiesen. Später würde sie die Dokumente, die sich bereits zu hohen Stapeln türmten, in Truhen sortieren. Uta schaute sich um. Sie spürte, dass sie hier der Antwort nach Gerechtigkeit näherkommen würde. Erinnerungen überkamen sie, und sie sah Erna, den Stallburschen Linhart, ihre Amme Gertrud mit roten Äpfeln und schließlich Hazecha vor sich, wie sie im Burghof einer Kuhblase hinterherlief. Ob Esiko die elterliche Burg inzwischen verlassen hatte und gleichfalls nach einer Möglichkeit suchte, um das an der Mutter begangene Unrecht zu rächen?
    »Lieber Herrgott, beschütze die Daheimgebliebenen.« Uta hob den Kopf zum Himmel. »Alwine verzeih mir, dass ich dich verlassen habe. Und beschütze Klara und Radegunde.« Dann ergriff sie das nächste Buch, notierte mit roter Quedlinburger Tinte die Eckdaten auf der Inventarliste und legte es auf den Stapel rechts neben der Tür.
    Der Garten erblühte mit der vollen Kraft des späten Frühjahrs.

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