Die Herrin der Kathedrale
hängen, deren Gesicht unter der Haube kaum zu erkennen war. Dennoch verdrängte bei deren Anblick ein bekanntes Gefühl die aufgestiegene Bitterkeit. Wie von fremder Hand geleitet erhob sich Uta und schritt die Tafel entlang auf die Küchenleute zu.
»Was ist denn in sie gefahren?«, fragte Grete und starrte Uta hinterher.
»Wo geht sie hin?«, wollte Elisabeth wissen. »Es schickt sich nicht, so einfach von der herzoglichen Tafel aufzustehen.« Adriana bedeutete den anderen Hofdamen mit dem Zeigefinger auf den Lippen, still zu sein. Das Herzogpaar war mit den Rittern zu Herzog Konrads Seite in ein Gespräch vertieft. Der Gang hatte Utas Puls schneller schlagen lassen. Am Tafelende blieb sie stehen. Sie wähnte den Festlärm weit entfernt und sah nur die junge Frau mit der riesigen Haube vor sich.
»Erna, bist du es?«
Die Angesprochene blickte von ihrer Hasenkeule auf.
Uta umfasste die Arme des Mädchens. »Erna vom Ballenstedter Burgberg, bist du es wirklich? Ich bin es, Uta, schau her!«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf den Leberfleck unter ihrem linken Auge.
Fassungslos ließ das Mädchen die Keule sinken und erhob sich langsam. »Meine Uta?« Erna strich Uta liebevoll über das Haar und den hellen Leberfleck. »Meine Uta aus Ballenstedt?« Überwältigt nickte Uta und drückte das Stückchen Familie und Heimat, das ihr so unverhofft begegnet war, fest an sich.
»Ich bin so froh, dass es dir gutgeht.« Erna löste sich von ihr und berührte vorsichtig das edle Gewand. »Wie fein du gekleidet bist.« Dann stockte sie und sofort sammelten sich Tränen in ihren Augen. »Ich dachte, du wärst in Gernrode?«
»Bis vor drei Jahren war ich das auch. Dann hat mich die Herzogin als Hofdame in ihre Dienste genommen«, entgegnete Uta und blickte an den fragenden Blicken der anderen Hofdamen vorbei die Tafel zur Herzogin hinauf. »Und du kochst jetzt für den Herzog und die Herzogin? Wie schön!« Am liebsten hätte sie die Freundin gleich hier und jetzt mit Fragen über die Familie überfallen. »Komm nach dem Fest zum Brunnenhaus im Hof. Da können wir ungestörter sprechen, ja?« Dann drückte sie Erna erneut. »Ich muss wieder an meinen Platz zurück.«
Erna nickte freudig, blieb dann aber wie angewurzelt stehen und schaute Uta nach. Erst als ihr der Küchenmeister die angefangene Hasenkeule auffordernd unter die Nase hielt, löste sie sich aus ihrer Erstarrung und biss herzhaft in das zarte Fleisch hinein.
Nach Mitternacht war der Burghof noch immer mit Feiernden überfüllt. Stattlich gekleidete Herrschaften strömten zwischen Burgsaal, Küche und Stallungen hin und her. Die Pferde und Esel im Hof wussten nicht, wie ihnen in all dem Gewusel geschah, und gaben verstörte Laute von sich. Aus dem Burgsaal drang Musik.
Im weiteren Verlauf der Festivitäten war das Herzogpaar vor seine Bauern getreten und hatte diesen für die Arbeit auf den Feldern und in den Wäldern gedankt. Erst als Schneegestöber einsetzte, hatte man die Tore der Stallungen geschlossen, um die Wärme der Grillfeuer nicht nach draußen entweichen zu lassen.
Uta schlüpfte aus dem Palas und zog sich ihren Umhang fester um die Schultern. Sie hatte Mühe, den Hof zu überblicken. Schneeflocken ließen sich auf ihrem Haar nieder, das nur von einem Schapel aus dem Gesicht gehalten wurde.
Vom Tor im Vorhof drangen die Rufe der Wärter zu ihr. »Niemand kommt mehr rein. Es geht nur noch raus hier! Versteht das doch!«
Auf der Suche nach Erna drängelte sie sich an den angebunden Pferden vorbei. Aufgeregt schob sie ihre in leichte Lederschuhe gekleideten Füße durch den jungen Schnee.
»Heh, schönes Kind, kann ich Euch helfen?«, sprach sie jemand mit weingeschwängerter Stimme an.
»Habt vielen Dank, nein«, entgegnete sie dem offensichtlich stark Angetrunkenen, dem Seitenblick nach ein Knappe ohne Bartwuchs. Auf dem weiteren Weg über den Hof blickte sie jeder Frau ins Gesicht, doch Erna war nicht darunter. Uta sah, dass der Platz um den Brunnen, an dem sie sich verabredet hatten, von einer Gruppe Edelleute belagert war. Sie roch Alkohol und Kuhmist und schlüpfte zwischen den überwiegend männlichen Feiergästen hindurch.
»Holde Dame, darf ich Euch auf einen Spaziergang einladen?«, sprach sie erneut jemand an.
Uta schüttelte den Kopf und kämpfte sich weiter durch die Menge.
Dann stand Erna plötzlich vor ihr. »Du bist es wirklich, Uta.
Also hab ich doch nicht geträumt!« Erna lächelte breit.
Der Schnee auf Utas
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