Die Herrin der Kathedrale
Luft und begann: »Nachdem der Graf dein leeres Bett sah, hat er auf die Gräfin eingeprügelt. Mit Schlägen hat er versucht, aus ihr herauszubekommen, wo du warst. Aber sie blieb standhaft. Ich habe ihr später Hühnersuppe ans Krankenlager gebracht, da konnte sie nicht mal mehr die kleinen Fleischstückchen schlucken. Als sie kurz darauf sicher war, dass niemand in der Nähe war, überreichte sie mir ein Pergament, das ich niemandem zeigen und so lange hüten sollte, bis ich dich eines Tages wiedersehe.«
Von Ernas Bericht gefesselt und zugleich erschüttert presste Uta die Hände der Freundin an ihre Brust. »Warum hat sie es mir nicht selbst gegeben? Wollte sie mich nicht wiedersehen?«
»Sie wollte, aber ihre Kräfte …« Erna schaute betroffen zu Boden.
Uta schluchzte. »Ich habe sie so sehr geliebt.«
»Sie dich auch.« Mit diesen Worten zog Erna ein gefaltetes Dokument unter ihrem Umhang hervor. »Witwen … hm, irgendwas mit Witwe ist da wohl drauf bezeugt.«
»Ihr Wi… Wit… Witwengut?« Uta zerbrach das Siegel und begann zu lesen. Ihre Augen weiteten sich. »Die Mutter hat damals ihr Witwengut dem Kloster Gernrode vermacht, damit sie mich dort aufnehmen.« Sie schaute auf. »Das war ihre einzige Pfründe für den Fall, dass der Vater vor ihr sterben sollte.«
»Sie sagte noch«, fuhr Erna fort, »dass kein Reinigungseid, der einem stotternden Mädchen auferlegt wird, von Gott gewollt sein kann.«
»Das hat sie gesagt?« Uta griff in die Luft, meinte die Anwesenheit der Mutter zu spüren, zu riechen und zu fühlen.
»Die letzten Worte, die sie mir zuflüsterte, waren, dass du dich niemals einem Knappen hingegeben hättest.«
Tränen schossen Uta in die Augen. Wie hatte sie je daran zweifeln können, dass die Mutter ihr nicht glaubte? »Warum aber, so erzählte mir Linhart, sprachen die Leute auf den Marktplätzen dann davon, dass die Mutter am Fleckfieber gestorben ist?«
»Das hat der Graf verkünden lassen«, entgegnete Erna mit hasserfüllter Stimme. »Als Linhart wagte, gegen diese Lüge aufzubegehren, hat der Graf ihn für den Tod der Gräfin verantwortlich gemacht. Er wurde beschuldigt, das Fieber eingeschleppt und auf sie übertragen zu haben.«
»Schwester Hathui berichtete mir«, erklärte Uta, »dass Linhart auf dem Gerichtstag zum Tode verurteilt wurde.«
Erna nickte. »Er hat den Rattentod erlitten.« Nur schwerlich gelang es ihr, einige Schluchzer zurückzuhalten. »Auf einer Streckbank hat man ihn an allen vier Gliedmaßen angebunden. Dann setzte ihm der Scharfrichter eine Ratte auf den Bauch und stülpte einen hölzernen, bodenlosen Käfig darüber. Er zündete den Käfig an, so dass die Ratte panisch wurde. Der einzige Weg für das Tier, seinem feurigen Gefängnis zu entkommen, war der, sich durch Linharts Bauch zu nagen.« Uta würgte mit geröteten Augen und sprach dann in Gedanken ein Gebet für die Seele des mutigen Stallburschen.
»Wir haben ihn schreien hören und mit ihm gelitten«, fuhr Erna mit bebender Unterlippe fort. »Das Geheimnis über deinen Aufenthaltsort hat er mit sich ins Grab genommen. Es war grausam auf der Burg. Niemand wagte mehr, einen Ton zu sagen, weil jeder um sein Leben fürchtete«, sagte Erna darum bemüht, ihre Fassung nicht vollends zu verlieren.
Der Schmerz über die Grausamkeit des Vaters drohte Uta den Boden unter den Füßen wegzuziehen. »Aber warum nur verurteilte der Vater einen Unschuldigen zum Tode?« Verzweifelt raufte Erna sich das wirre Haar. »Wir haben es alle nicht verstanden.«
»Halt mich bitte fest«, bat Uta und legte ihren Kopf an Ernas Schulter. Inzwischen hatte sich der Burghof geleert. Das Schneegestöber war in einen Sturm übergegangen. »Versprich mir, dass uns so bald nichts mehr trennen wird«, sagte Uta, an die Freundin geklammert.
»Versprochen!«, erwiderte Erna, lehnte ihren Kopf an den Utas und ließ endlich ihren Tränen freien Lauf.
Adriana schlief bereits, als Uta sich vom Lager erhob und ein Talglicht anzündete. Dann kniete sie sich auf den Boden, griff unter das Bett, zog ein Tintenfässchen, einen Federkiel und ein Pergament darunter hervor und begann zu schreiben:
Schwesterliche Liebe und Gottes Beistand, Bruder Esiko, so viele Jahre sind vergangen, seitdem wir zuletzt zusammensaßen. Ich wende mich nun mit einem dringenden Anliegen an dich: Ich möchte der Mutter Gerechtigkeit widerfahren lassen, weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass unser Vater sie von uns genommen hat. Sag mir, dass
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