Die Herrin der Kathedrale
wusste es. »Als Beweismittel vor dem königlichen Gericht Clothars I. sind vier Dinge zugelassen. Das ist erstens der Eid. Das ist zweitens das Gottesurteil.« Uta schluckte – der Reinigungseid war ein Gottesurteil. »Das ist drittens der Beweis durch Befragung.« Das Wort Befragung ließ sie erschaudern, auch wenn sie nicht genau wusste, was es bedeutete. »Viertens kann ein Beweis durch Urkunden erbracht werden«, las sie weiter. »Eid, Gottesurteil, Befragung und Urkunde«, fasste sie zusammen und schloss die Augen. Welche dieser vier Beweisformen vermochte sie dem sächsischen Herzog vorzulegen, um die Anklage gegen ihren Vater zu führen? Nachdenklich legte sie den Kopf in den Nacken und atmete einige Male tief durch.
»Uta von Ballenstedt, seid Ihr im Wagen?«
Uta reagierte nicht.
»Uta von Ballenstedt?«, rief da jemand erneut und zeigte sich nun in der Einstiegsluke.
Uta streifte die Kapuze ab, um sich zu erkennen zu geben.
»Verzeiht. Ich bin hier.«
»Dann ist das wohl für Euch.« Der Berittene reichte ihr ein Schreiben herein. »Das wurde gerade abgegeben.«
Uta erhob sich überrascht und ergriff das zusammengefaltete Pergament. »Ich danke Euch«, sagte sie mit einem Nicken und betrachtete das Siegel. Es zeigte einen auf einem Stiftsberg aufragenden Kirchturm und war ihr bekannt. »Endlich ein Lebenszeichen von Hazecha«, stieß sie erleichtert hervor. Sie erbrach das Siegel und entfaltete das Pergament.
Der Berittene beobachtete sie dabei.
Uta schaute auf. »Kann ich Euch sonst noch helfen?«, fragte sie, als der Mann noch immer keine Anstalten machte, sie alleine zu lassen.
Der Mann schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihr zu nehmen. »Vorerst nicht«, entgegnete er mit einer Spur von Enttäuschung in der Stimme.
»Ich danke Euch«, sagte Uta mit Nachdruck.
Der Ritter nickte und trabte dann davon.
Uta ließ sich auf ihrem Höckerchen vor dem kurzbeinigen Pult nieder, strich mit den Fingern über die braunen Buchstaben und begann, aufgeregt zu lesen. Die Schwester schrieb von ihren Aufgaben im Gernroder Stift, ihrem Gelübde und ihrer Hingabe an die Heilkunde, in die Schwester Alwine sie einführte. »Hazecha, Kleines, dir geht es gut«, flüsterte Uta und schaute zufrieden auf das Schreiben. Als ein Sturm gegen den Wagen peitschte, zog sie sich die Kapuze wieder über den Kopf, ergriff eine schmale Feder in ihrem Holzkästchen, drückte das Tintenfass in ihren Schoß und machte sich an das Antwortschreiben:
Schwesterliche Liebe und Gottes Beistand seien stets mit dir, Hazecha.
Es hat mich übermächtig gefreut, dass du gesund bist und mir so rasch geantwortet hast. Ich habe deine schönen Zeilen mit großer Freude nun mehrere Male gelesen. Du hast das ewige Gelübde auf deinen eigenen Wunsch hin abgelegt. Dies zu lesen, war mir eine besondere Freude. Schreibe mir doch, welche Aufgaben du im Kloster übernommen hast. Ich habe noch viele Erinnerungen an Gernrode und hoffe, du bist nicht zu streng mit dir selbst.
Derzeit reise ich mit dem königlichen Zug im Lande umher. Wir haben schon so viele Städte und unbekannte Gegenden gesehen. Ich bitte dich mir zurückzuschreiben und sende dir als Geschenk eine von mir selbst gefertigte Abschrift des zweiten Buches Von der Materie der Medizin des Dioskurides. Die Schrift besteht insgesamt aus fünf Büchern, du sollst den ersten Teil des zweiten Buches erhalten, der die Wirkung tierischer Stoffe beschreibt. Das ist dir gewiss eine Hilfe in der Heilkunde. Hast du gewusst, dass Schlangenhaut in Wein gekocht ein Mittel gegen Ohrenleiden und Zahnschmerzen ist und der Geruch getrockneter Wanzen sogar Ohnmächtige aufzuwecken vermag?
Mit meinem nächsten Schreiben schicke ich dir den zweiten Teil des zweiten Buches, in dem du derlei noch mehr nachlesen kannst. Die Königin erlaubt mir, in diesen Wochen einige Zeit dafür aufzuwenden. Sie ist sehr gütig zu mir. Bitte sage auch Schwester Alwine meine besten Grüße. Bei jedem Gedanken an den Hortulus denke ich an sie und spreche ein Gebet.
Bei den abschließenden Worten angelangt, schloss Uta die Augen. In ihrer Erinnerung schaute sie Hazecha liebevoll aus dem Ballenstedter Burgsaal nach – da sah sie plötzlich, wie der zornige Vater auf Hazecha zuschritt. Es war jene Situation, in der sie ihre Schwester zum letzten Mal gesehen hatte. Uta öffnete die Augen, die sich unwillkürlich mit Tränen gefüllt hatten. Sie tauchte den Federkiel noch einmal in das Tintenfass und fuhr fort:
Bitte
Weitere Kostenlose Bücher