Die Herrin der Kelten
vordersten Bäume zum Wasser hin abfiel. Airmid stellte sich mit dem Rücken zur Sonne und blickte zuerst nach links und dann nach rechts. Sie machte ein paar Schritte vorwärts, sah sich abermals nach beiden Seiten um und war zufrieden. Dann zeigte sie zu einer Stelle am Ufer, wo eine Weißbirke aus der ersten Baumreihe hervorragte, und sagte: »Da ist die Stelle. Klettere dort rauf. Setz dich zwischen die Wurzeln und sag mir, was du siehst.«
»Wollten wir nicht schwimmen?«
»Später. Das hier ist erst mal wichtiger.«
Der Baum, auf den sie gezeigt hatte, war älter als die meisten derjenigen, die dicht am Ufer wuchsen. Breaca grub ihre Finger in den Abhang und kletterte hinauf, um sich neben den Baum zu stellen. Knorrige Wurzeln, so dick wie ihr Arm, ragten aus der Lehmerde heraus und bildeten ein Gewirr aus Schlaufen und Schlingen, das ihr bis zu den Knien reichte. Zwei der dickeren Wurzeln formten eine Gabel, deren Spitze zum Fluss hin zeigte, und Breaca zwängte sich dazwischen, so dass die Wurzeln sie so sicher umfangen hielten, wie es die Arme ihres Vaters getan hatten, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Sie blickte auf den Fluss hinunter. Von hier oben konnte sie durch die spiegelblanke Wasseroberfläche hindurch sehen und die träge kreisenden Strudel der Strömung an der Stelle erkennen, wo der Fluss sich verbreiterte, um den Teich zu bilden. Die Schönheit der Szene war perfekt, und Breaca musste zugeben, dass es sich durchaus gelohnt hatte, dafür die lange Wanderung in der Hitze auf sich zu nehmen. Lächelnd blickte sie zu Airmid hinunter. »Ist es so richtig?«
»Wenn du das Gefühl hast, dass es die richtige Stelle ist.« Das ältere Mädchen stand ganz nahe am Rand des Wassers, die Füße gespreizt, ihre Augen mit einer Hand gegen das blendend helle Licht abgeschirmt. Sie war jetzt sehr ernst, ganz anders als vorhin. »Blick über den Fluss hinweg auf das Land jenseits davon«, sagte sie. »Was siehst du?«
Breaca spähte in die Ferne. Sie konnte von ihrem Platz aus nach Osten sehen, dorthin, wo die Landschaft am flachsten war. Weit draußen, über den sumpfigen Niederungen, flimmerte die Hitze und spielte den Augen des Betrachters einen Streich. Der ferne Horizont verlor sich in einem Dunst, der Wasser versprach, aber kein Wasser lieferte. Zwischen hier und dort war das Land flach, in unregelmäßigen Abständen gesprenkelt mit Streifen von verkrüppelten, windgebeugten Stechginsterbüschen, Schwaden von Farngestrüpp und wild wucherndem Gras. Nichts davon war in irgendeiner Weise außergewöhnlich. Breaca schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich weiß nicht. Was soll ich denn sehen?«
»Das wirst du wissen, wenn du es siehst.« Airmid packte eine Wurzel und zog sich die Böschung hinauf. Sie kniete sich neben Breaca, damit ihrer beider Augen auf gleicher Höhe waren, und spähte in dieselbe Richtung. Dann tat sie es noch einmal mit etwas tiefer gesenktem Kopf. »So kannst du es ja auch nicht sehen«, erklärte sie schließlich. »Setz dich ein Stück tiefer.«
Breaca rutschte ein wenig weiter zwischen den Wurzeln hinunter. Die Horizontlinie stieg an, und der Blickwinkel änderte sich. Sie starrte angestrengt zu dem Ort hinüber, wo Land und Himmel ineinander flossen, und diesmal sah sie plötzlich, was sie sehen sollte: einen lang gezogenen, flachen Erdhügel, der nur gerade eben aus der umgebenden Landschaft hervorragte. »Was ist das?«, fragte sie.
»Ein uralter Grabhügel, der noch von den Ahnen stammt. Sie haben ihn damals errichtet, um ihre Toten zu ehren. Das Wichtige ist, dass du die Sonne und den Mond über dem Hügel aufgehen sehen kannst, wenn du zum richtigen Zeitpunkt hier sitzt. Ich glaube, das wäre gut. Wenn es darauf ankäme, sie zu sehen.«
Airmid hatte sich wieder erhoben und stand jetzt neben dem Baum. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, ihre Stirn gerunzelt, während sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. Unter den Regeln und Gesetzen gab es einige, die klarer und verständlicher waren als andere. Eines der eindeutigsten Gesetze lautete, dass ein Mädchen, das im Begriff war, zur Frau zur werden, sich selbst den geeigneten Platz suchen sollte, wo sie ihre drei langen Nächte in einsamer Abgeschiedenheit verbringen würde, und dass sie sich bei der Suche nicht von anderen helfen lassen sollte. Breaca hatte einen großen Teil des Sommers damit verbracht, vergeblich nach dem Ort zu suchen, von dem sie das Gefühl hatte, dass er der richtige war. Als sie
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