Die Herrin der Kelten
und hatte eine Hälfte der neu erbauten Truppenunterkünfte mit Beschlag belegt. Die Männer der Legio XXII Primigenia waren römische Staatsbürger, und sie bildeten sich ein, ebenso hoch über den Galliern und Germanen zu stehen, mit denen sie exerzierten, wie sich der Kaiser über das gemeine Volk erhaben fühlte. Innerhalb von fünf Tagen hatten sie diese irrige Ansicht revidiert. Innerhalb von zehn Tagen hatten auch sie das Unheil des Flusses zu spüren bekommen, und die Welle von Desertionen hatte begonnen.
Jeder der Neuankömmlinge fürchtete den Fluss. Er strömte brodelnd und zischend an den Lagern vorbei, ein heimtückisches, unberechenbares Wesen, das die Gemüter aussaugte, aufgequollene Tierkadaver an seine Ufer schwemmte und Heimat ganzer Heerscharen von stechenden Insekten war; und jeden Morgen spuckte er einen hartnäckigen Nebel aus, der sich in flachen, milchigen Schwaden über die Landschaft ausbreitete und sämtliche Unebenheiten im Boden verbarg, so dass die Kavalleristen bei ihren täglichen Ausritten jedes Mal um die Beine ihrer Pferde fürchteten. Nur diejenigen, die an den Ufern des Rheins geboren und aufgewachsen waren, fanden den Fluss erträglich. Die batavischen Hilfstruppen konnten in voller Rüstung von einem Ufer zum anderen schwimmen, mit ihren Pferden neben sich, und sie schafften dies sogar in einer geschlossenen Formation. Sie taten es aufgrund einer Wette, zur Übung und zur Schau vor den ranghöchsten Offizieren oder auch ganz einfach nur deshalb, weil es für sie ein Nervenkitzel war, in die reißenden Fluten einzutauchen. Sie liebten den Fluss um seiner selbst willen und des einen Namens wegen, der unentwirrbar in seine Geschichte eingeflochten war: Arminius, Sohn von Sigimur, Vernichter der römischen Legionen, der Mann, dessen Seele, so hieß es, ihre Kraft aus dem Fluss geschöpft und diese Kraft hundertfach zurückgegeben hatte.
Auch in diesem Punkt waren die Männer geteilter Ansicht. Die Römer und die Gallier pflegten bei der Nennung von Arminius’ Namen ein Unheil abwehrendes Zeichen zu machen und gegen den Wind zu spucken. Die Germanen waren da etwas vorsichtiger und sparten sich ihre Meinungsäußerungen für diejenigen auf, denen sie am meisten vertrauten. Bán erfuhr die Einzelheiten von Civilis, dem stämmigen, breitschultrigen Bataver mit dem sommersprossigen Gesicht und dem flachsblonden Haar, der ihn damals auf Corvus’ Befehl hin mit seiner Keule bewusstlos geschlagen hatte und sich seitdem unzählige Male dafür entschuldigt hatte. Die Bataver waren ein gefühlsbetontes Volk, und Civilis neigte, so wie alle Angehörigen seiner Sippe, zu mitteilsamer und inniger Freundschaft. Seit Durocortorum hatte er Bán in sein Herz geschlossen und behandelte ihn wie einen Sohn oder wie einen jüngeren Bruder, der erst kürzlich zum Mann geworden war, und die Geschichte von Arminius war ein weiterer Teil seines Erbes, von dem Bán erfahren musste. Civilis hatte diese Geschichte erzählt, während er auf einer der drei Brücken saß, die den Fluss überspannten; er hatte seine Beine über den Rand baumeln lassen und dabei Kieselsteine als Glücksbringer ins Wasser geworfen, für jede der drei vernichteten Legionen einen Stein. »Die Siebzehnte, die Achtzehnte und die Neunzehnte sind bis auf den letzten Mann ausgelöscht worden, zusammen mit ihren Kohorten und Hilfstruppen und allen ihren Marketenderinnen. Von denen wird man nie wieder etwas hören.«
Bán hatte zu diesem Zeitpunkt erst zwei Monate bei den Legionen verbracht. Sie hielten sich für unverwundbar, und er hatte keinen Grund zu der Annahme gesehen, dass sie logen. Aber auch die Höflichkeit hielt ihn davon ab, so etwas zu sagen. »Wie wurden sie geschlagen?«, hatte er gefragt.
»Es war Augustus’ Schuld. Er machte Quinctilius Varus zum Oberbefehlshaber über die Truppen, und der Mann hatte nun mal keine Ahnung von Kriegsführung, weil er ein Jurist war und kein Krieger. Aber sie wären so oder so gestorben; Arminius hatte mit ihnen gekämpft und ihre schwache Seite gesehen. Sie hatten nämlich nicht gelernt, dass in Reih und Glied zu marschieren und noch dazu in Rüstungen, die so blank poliert sind, dass sie selbst die Sonne blenden, keine gute Methode ist, um in einem Wald zu kämpfen. Außerdem hatten sie den Fehler gemacht, Arminius zu vertrauen, weil er früher einmal Offizier der Legionen gewesen war. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mann Rom abtrünnig werden könnte, um wieder zu
Weitere Kostenlose Bücher