Die Herrin der Kelten
eine völlig andere, einen Tag und eine Nacht lang zu Gaius’ Unterhaltung gefoltert zu werden.« Schlanke Finger hoben Strähnen seines Haares hoch und breiteten sie fächerförmig über seinem Kopf aus. »Und außerdem dachte ich, ich hätte dich verloren... das Wenige, das ich hatte. Du hättest dein Gesicht sehen sollen, als wir im Audienzzimmer waren. Ich dachte, du hasstest mich deswegen.«
»Ich habe dich nicht gehasst. Ich habe Gaius gehasst, wegen seines anzüglichen Grinsens, und ich habe den Griechen gehasst, weil er so widerwärtig lachte, aber nicht dich. Es war ein Schock für mich. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.«
»Du hättest aber darauf gefasst sein müssen. Alle anderen waren es.«
»Vielleicht, aber die Toten lieben nur einander; für die Lebenden ist in ihrem Herzen kein Platz mehr. Ich habe mich so sehr danach gesehnt, bei Iccius zu sein, dass ich einfach nichts anderes mehr wahrgenommen habe.«
»Bán, du bist nicht tot.«
»Ich weiß.« Er hob Corvus’ Hand, drückte einen Kuss in die Handfläche und drehte sie zum Licht herum. Unter den Parisi gab es Frauen, von denen es hieß, sie könnten in der Hand eines Mannes den Verlauf seines Lebens erkennen. Bán rieb mit seinem Daumenballen über das Netz von Schwielen und Narben und zeichnete die Linien bis zu der Stelle nach, wo sie endeten. »Wenn Gaius fort ist, was werden wir dann tun?«
»Das hier. Und wieder zum Rhein zurückmarschieren. Und exerzieren. Und sehen, ob wir deinen wahnsinnigen Hengst bändigen und ein Kavalleriepferd aus ihm machen können. Und warten, bis Galba sagt, dass er die Legionen entbehren kann, und dann wieder über den Ozean segeln, um Gaius’ Versprechen gegenüber Amminios zu erfüllen.«
»Will er das noch immer tun, obwohl Amminios tot ist?«
»Er muss es tun; er hat gar keine andere Wahl. Es ist das Einzige, was ihn retten wird. Die Senatoren mögen ihn zwar verabscheuen, aber wenn er ihnen Britannien einbringen kann, wird er nichts zu befürchten haben.« Corvus stützte sich auf einen Ellenbogen. »Was ich letzte Nacht gesagt habe, war mein voller Ernst. Du musst nicht an der Invasion gegen dein eigenes Volk teilnehmen. Du kannst fortgehen, wenn du das möchtest. Ich werde ein Schiff für dich besorgen, das dich nach Hause bringen wird.«
»Corvus?«
»Ja?«
»Meine Angehörigen sind tot. Iccius war der Letzte, und als er starb, starb meine Seele mit ihm. Gestern bin ich neu geboren worden, an diesem Ort hier, unter Menschen, die zu mir gehören. Früher war ich Bán von den Eceni. Jetzt bin ich bloß noch Bán, der ein Pferd namens Tod reitet. Und wo immer mich das auch hinführt, da ist mein Zuhause.«
VIERTER TEIL
Spätsommer/Herbst A.D. 42 - Frühjahr A.D. 43
DIE INVASIONSROUTEN A.D. 43
XXV
Die Salzmarsch lag an der fernen Ostküste südlich des ins Meer mündenden Flusses, an der Stelle, wo ein einzelnes Schiff oder auch eine ganze Invasionsflotte, die aus Gesoriacum oder der Rheinmündung auslief und die kürzeste Überfahrt mit den günstigsten Tiden suchte, zum ersten Mal Land sichten könnte.
Am Tag des letzten Neumonds vor der Tag- und Nachtgleiche im Herbst waren dort keine Schiffe in Sicht. Das Meer wogte in einem gemächlichen Rhythmus, und auf den Wellen blitzten hin und wieder vereinzelte Schaumkrönchen auf. Der schwache Wind, der an diesem Tag herrschte, wehte von der Küste auf die See hinaus. Das Land war in friedliche Stille gehüllt. Die von Salzwasser überspülten Niederungen flimmerten in der vormittäglichen Spätsommersonne. Stelzvögel staksten auf dünnen Beinen über den Schlick. Ein riesiger Schwarm spitzschnabeliger Austernfischer, von den einheimischen Cantiaci »See-Elstern« genannt, flatterte erschrocken auf, ließ sich jedoch einen Moment später wieder im Watt nieder, während sie mit hohen, flötenartigen Tönen pfiffen. Breaca, die auf einem Felsen saß, drehte sich um, um zu sehen, was die Tiere aufgescheucht hatte. Der Horizont blieb weiterhin frei von Schiffen, aber nach einer Weile fühlte sie das Hämmern von näher kommenden Hufschlägen durch ihre Fußsohlen vibrieren. Die Vögel waren gute Wächter, auch wenn sie jetzt vielleicht nicht mehr ganz so wachsam waren wie noch im späten Frühjahr, als die Stämme sich zum ersten Mal versammelt hatten. Zu Anfang hatten sie bei jedem Bellen und jedem Ausruf schrill kreischend die Flucht ergriffen und waren in riesigen buntscheckigen Wolken davongeflogen. Vier Monate später stolzierten
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