Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
Wille verflog, wo er hätte stark sein müssen, sie war panisch, wo sie hätte vernünftig sein sollen, voll von Schmerz, wo Verstand gefordert war. Sie hatte versagt, dieser Vorwurf ließ sie nicht los und vermischte sich mit dem Schmerz, den ihr ein anderer beigebracht hatte.
Johannes! Tatsächlich war sie nun mit ihm verbunden, aber anders, als er sich das wohl vorgestellt hatte. Beim Gedanken an ihn verkrampfte sich ihr Körper. Zum ersten Mal wünschte sie einem Menschen den Tod an den Hals.
Und wie leicht wäre es für sie, ihn zu verraten. Nur ein Wort, und Sergius würde diesen Dämon noch heute umbringen lassen, ihn aus ihrem Leben hinwegfegen. Ein kurzes Hochgefühl loderte in ihr auf und legte ihr Worte auf die Zunge, Worte des Hasses und der Vernichtung: Töte ihn, benutze jeden, der dir dabei helfen kann. Wieso diesen Gefühlen nicht nachgeben? Wieso nicht Johannes in die Hölle schicken? Tu es, tu es gleich!
Doch die gefährliche Euphorie dauerte nur wenige Atemzüge lang. Schwerfällig wie ein Mühlrad kamen nun ihre Gedanken wieder in Bewegung. Zwei Gründe sprachen dagegen, den einfachsten aller Rachewege einzuschlagen und Sergius dafür zu benutzen. Zum einen war Sergius politisch ungeschickt, und es konnte gut sein, dass sie ihn in größere Gefahr brachte als Johannes. Zum Zweiten wollte sie selbst Johannes den Schlag versetzen, den er verdiente, und dies nicht von jemand anderem erledigen lassen. Obwohl sie natürlich wusste, dass Sergius ebenso wie sie um das Kind trauerte, konnte sie sich nicht überwinden, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dieser Kampf gehörte ihr allein.
Vom Gang draußen drang Musik in ihr Gemach.
»Was ist das?«, fragte sie stimmlos.
»Ach, Saxo hat einige deiner Musikanten herbeigeholt. Die mit den arabischen Instrumenten. Er wollte sich nicht davon abbringen lassen, dich mit einigen fröhlichen Melodien aufzuheitern.«
Marocia war noch sehr schwach, aber als sie das hörte, stützte sie sich mit den Ellenbogen auf und blickte in Richtung der verschlossenen Tür. »Das ist . . . außerordentlich reizend von ihm.«
»Ja«, bestätigte Sergius. »Wer hätte so etwas von Saxo gedacht? Man schätzt die Menschen manchmal ganz falsch ein.«
Jetzt fiel ihr wieder ein, was Damiane an diesem Vormittag in ihr Ohr geflüstert hatte. Ja, Saxo war der ideale Komplize des Kardinals, denn niemand im Lateran hasste sie so sehr wie dieser pummelige bairische Schrat. Im Grunde konnte sie das kaum überraschen; ihr Zusammentreffen mit Johannes war zweifellos nicht zufällig gewesen – das wäre ein arg großer Zufall. Dass dieser Mordgehilfe jedoch so dreist war, ihr seine Komplizenschaft derart unverschämt unter die Nase zu reiben, indem er den Tod ihres Kindes mit dieser makaberen musikalischen Aufführung feierte, verblüffte sie dann doch. »Wir sollten Saxo für seine Fürsorge belohnen«, schlug Marocia süß lächelnd vor. »Weißt du, er leistet im Lateran schon viel zu lange seine Dienste, und nun diese unglaubliche Geste.«
»Selbst jetzt denkst du an andere«, lobte Sergius.
»Eine Beförderung wäre angebracht.«
»Zum Bischof?«
»Sei nicht so knauserig, Liebster. Erzbischof klingt besser. Ist der Titel in Aquileia nicht unlängst frei geworden?«
»Ich glaube ja«, sagte Sergius. »Dann ist es beschlossen. Und jetzt zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber, und ruh dich aus.«
Das tat sie, denn in Aquileia grassierte ein Fieber, das innerhalb eines Jahres zwei aufeinander folgende Erzbischöfe hinweggerafft hatte.
13
»
Puer natus est.«
Ein Kind ist geboren. Gratians klare und hohe Singstimme dehnte sich wie ein Regenbogen über die Köpfe des in der Petersbasilika versammelten Kirchenvolks und eröffnete damit die Weihnachtsmesse des Jahres 909.
Marocia jedoch beachtete den Gesang kaum, sondern spähte immer wieder durch den Wald von Häuptern um sie herum, auf der Suche nach dem Gesicht ihres Vaters, sogar dem ihrer Mutter. In diesen letzten Monaten seit dem Verlust ihres Kindes hatte sie gespürt, wie allein sie im Grunde doch war. Sie war bereit, Theodora so manches zu vergeben, wenn sie sich nur an ihrer Schulter hätte ausweinen können, doch weder in jener schwierigen Zeit noch heute suchte Theodora den Kontakt zu ihr. Kein Besuch, kein Wort, kein Brief ihrer Mutter tröstete Marocia, und so blieben Sergius und vor allem Damiane ihre einzigen Stützen. Ja, ihre Zofe leistete ihr seit einigen Wochen geradezu aufopferungsvolle Hilfe, sie war ihre
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