Die Herrin der Pyramiden
Schreibpinsel. Ich dachte mir, dass er vielleicht nichts dagegen hätte, wenn ich mir einen Pinsel auslieh und einen Bogen bemalte. Ich hatte nicht viel Gelegenheit, auf so schönem Papyrus zu schreiben. Auf seinem Tisch fand ich eine Schale mit roter Tinte sowie ein ellenlanges Lineal.
An seinem Schreibtisch zeichnete ich einen Plan der Pyramide. Zunächst kopierte ich mit Lineal und Winkelmesser den Bauplan, der an der Zeltwand hing. Dann malte ich auch das geheime Grabkammersystem und trug die Bemaßung am Rand der Skizze ein. Am Ende sah die Zeichnung sehr technisch aus, sodass ich neben meine Pyramide mit schwarzer Tinte noch die Hütten für die Arbeiter malte, die Bäckerei, die Schmiede und den Hafen. Gerade hatte ich mit blauer Tinte den Hapi auf den Papyrus gepinselt, als Api in das Zelt zurückkam.
Wie erstarrt blieb er stehen, als er mich mit dem Pinsel in der Hand über die Skizze gebeugt sah. »Nefrit! Bist du von deinem Ka verlassen?«, rief er entsetzt.
»Was ist, Api? Ich habe nichts getan!«
»Du hast einen wertvollen Bauplan zerstört! Wie soll ich das Prinz Nefermaat erklären? Der Plan war für ihn bestimmt!«
»Ich habe nur einen Papyrus genommen und zu malen begonnen …«, versuchte ich zu erklären, aber er ließ mich nicht ausreden:
»Der Papyrus, den du dir genommen hast, war ein Bauplan der Pyramide! «, brüllte er mich an.
»Das Blatt war leer!« Ich deutete auf die Zeltwand: »Das ist der Bauplan ...«, dann auf den Tisch: »... und das hier ist meine Zeichnung.«
Verwundert beugte er sich über mich und zog die Skizze zu sich heran. Immer wieder verglich er ihre exakten Linien mit denen des Bauplans an der Zeltwand. »Unglaublich präzise«, brummte er schließlich. »Wo hast du das gelernt?«
»Das Zeichnen hat mir niemand beigebracht. Aber Aperire hat sich sehr viel Mühe gegeben, bis ich die Bildzeichen gerade und ohne zu klecksen mit dem feinen Pinsel schreiben konnte.«
»Ich brauche einen Bauzeichner«, sagte er. »Nefrit, du bist eingestellt!«
Von Apis Rückkehr in den Tempel des Sonnengottes von Iunu erfuhr ich durch einen Brief, der im zweiten Mond des vierten Regierungsjahres des Seneferu von einem der Barkenkapitäne überbracht wurde.
Api war vom Hohepriester des Re zurückgerufen worden, weil er zum Propheten des Tempels ernannt worden war. Er zögerte nicht lange und gab mit Zustimmung des Wesirs Nefermaat seine Karriere als Königlicher Bauleiter auf, um in die Sonnenstadt Iunu zurückzukehren.
Er sollte durch einen neuen Bauleiter abgelöst werden – das hatte ich von Aperire erfahren. Doch niemand wusste, wann der Priester aus Iunu eintreffen würde. Auch nicht mein Vater, der als Aufseher der Steinverleger auf der obersten Plattform beinahe alles wusste, was auf der Baustelle geschah.
Die Arbeiten auf der Baustelle gingen auch ohne Api ihren gewohnten Gang. Das Chaos brach erst aus, als ein Bote aus der Residenz eintraf und den Besuch des Königs ankündigte. Aperire als ranghöchster Priester auf der Baustelle organisierte die Vorbereitungen für den Besuch.
Prinz Nefermaat traf am Nachmittag mit seiner Sänfte ein und erwartete seinen königlichen Bruder, der von einer Horusfahrt zurückkam. Die goldene Sonnenbarke legte am späten Nachmittag im Hafen an. Der Wesir empfing den König auf einem der Landungsstege, die mit Tüchern und Blumen geschmückt worden waren.
Prinz Nefermaat, der die Baustelle vor über einem Jahr zuletzt besucht hatte, zeigte König Seneferu die Steinbrüche, die Werkstätten der Steinmetze, die Baurampe sowie die Grabkammer unterhalb der Pyramide. Zum Schluss ließ sich der König mit einer Sänfte auf die oberste Plattform hinauftragen, von wo aus er bis zu seiner Hauptstadt hinübersehen konnte. Die Eskorte des Königs und seines Wesirs bestand aus hundert Würdenträgern, die ihre Zeit damit zu verbringen schienen, vor dem Göttlichen auf Knien zu rutschen und den Staub zu seinen Füßen zu küssen. Aperire kniete in angemessener Entfernung zum Herrscher.
Obwohl die Arbeiter die strenge Anweisung hatten, die Bauarbeiten durch die Anwesenheit des Königs nicht zu verzögern, kamen die Schlitten auf der Rampe zum Stehen und sogar teilweise ins Rutschen, weil die Arbeiter sich ihrem Herrscher zu Füßen warfen und auf eine kurze Segnung durch Seine Göttlichkeit hofften. Mein Vater und die anderen Aufseher hatten alle Hände voll zu tun, nach dem Abstieg des Königs von der obersten Plattform die Arbeiter wieder
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