Die Herrin der Pyramiden
den Saal.
Ich ging zum Schreiber hinüber.
»Ihr könnt gehen. Seine Majestät empfängt heute nicht mehr«, wiederholte er.
»Der König erwartet uns. Er hat uns gebeten, heute hier zu erscheinen und ihm die Pläne zu zeigen.«
»Seine Majestät bittet nicht, er befiehlt! Welche Pläne?«
»Der Königliche Bauleiter Kamose soll dem König die neuen Pläne für die Pyramide zeigen und die neuen Berechnungen vorlegen.«
Der Sekretär sah mich erstaunt an, und ich hielt seinem Blick stand. Dann durchsuchte er eine Liste mit angemeldeten Besuchern. »Hier steht: Bauleiter Kamose aus Tis. Wer bist du?«
»Seine Tochter.«
»Du kannst nicht mit hinein. Du musst hier warten.«
Die Sonne war schon lange untergegangen, als mein Vater in das Audienzzimmer geführt wurde.
Ich blieb allein zurück und beobachtete, wie der Schreiber seine Schreibbinsen zusammenpackte und die Schale mit den getrockneten und in Honig eingelegten Zitronenscheiben, von denen er während des Nachmittags immer wieder etwas stibitzt hatte, unter sein Schreibpult schob. Seine täglichen Pflichten als Staatsbeamter schienen erfüllt. Ab und zu warf er mir einen irritierten Blick zu, als hielte ich ihn davon ab, in sein Haus zurückzukehren.
Mein Vater blieb sehr lange fort, und ich wurde immer unruhiger. Was war denn bloß geschehen?
Sobald der Sekretär seinen Platz verließ, schlich ich mich bis zur hohen Tür aus Ebenholz, um daran zu lauschen.
Stille.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Dahinter fand ich einen Gang, der auf ein weiteres Portal mündete. Ich schloss die Türflügel leise hinter mir und huschte den Korridor entlang. Beunruhigt sah ich mich immer wieder um.
Vor dem nächsten Portal machte ich Halt und horchte.
Lautlos schob ich einen Türflügel auf und blickte durch den Spalt. Der Raum, das Schreibzimmer der Sekretäre des Königs, war verlassen. An der gegenüberliegenden Seite lag ein durch einen Leinenvorhang abgeteilter zweiter Raum. Der Audienzsaal!
»Die Berechnungen von Kamose sind völliger Unsinn!«, brachte Nefermaat gerade vor.
Durch das dünne Leinen konnte ich die Szene im Audienzsaal beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Prinz Nefermaat und mein Vater saßen in Schreiberhaltung vor dem König. Dieser schien verärgert darüber, dass der Wesir und sein Bauleiter sich nicht über den Neigungswinkel seines ehrgeizigen Bauprojektes einigen konnten.
»Schluss jetzt, Nefermaat! Du hast bisher kein vernünftiges Argument vorgebracht, das für den einen oder gegen den anderen Winkel spricht. Vergiss für einen Augenblick deine Stellung bei Hof und lass dich auf eine sachliche Diskussion mit Kamose ein!«, forderte der König.
»Jedes meiner Argumente ist sachlich!«, knirschte der Wesir. »Die Pyramide wird mit dem Winkel vier zu eins nicht einstürzen!«
»Das stimmt nicht«, sagte mein Vater ruhig. »Sie
wird
einstürzen.«
»Bei Imhotep«, fluchte der König. »Das kann doch nicht wahr sein! Muss ich mich denn wirklich mit euch beiden herumärgern?«
Als er sich erhob, sank mein Vater auf den Boden und verneigte sich tief vor dem Herrscher.
»Ich befehle euch, gut zusammenzuarbeiten. Das heißt für mich, nur um spätere Interpretationen auszuschließen, mein Grabmal in den vorgegebenen erweiterten Maßen mit dem größtmöglichen sicheren Neigungswinkel zu errichten. Die Audienz ist beendet!«
Am selben Abend – mein Vater und ich waren gerade erst aus Pihuni zurückgekehrt – erwartete uns Aperire im Zelt des Bauleiters. Neben ihm saß ein Priester des Re in Schreiberposition. Beide erhoben sich, als mein Vater das Zelt betrat.
»Kamose, das ist Hemset, der neue Bauleiter aus dem Sonnentempel in Iunu«, stellte Aperire den Priester vor.
Mein Vater stand wie zur Statue erstarrt, bleich und zittrig. Sein Traum zerplatzte. Er presste die Baupläne zusammen, bis der Papyrus brach.
»Hemset, das ist Kamose, den Seine Majestät vor zwei Tagen zum Königlichen Bauleiter ernannt hat«, fuhr Aperire unerbittlich fort.
Hemset kam auf meinen Vater zu und warf sich ihm zu Füßen. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Kamose.«
Offensichtlich hatte mein Vater mehr Widerstand vom Sonnenpriester erwartet.
Warum klärte Aperire die Situation nicht auf?
»Bitte erhebe dich, Hemset!«, bat ihn mein Vater. »Du musst nicht vor mir knien. Ich bin erfreut, dich kennen zu lernen. Die hierarchische Veränderung muss dich bei deiner Ankunft überrascht haben.«
»Das hat sie, ehrlich gesagt. Aber
Weitere Kostenlose Bücher