Die Herrin des Labyrints
Sie Ellingsen-Reese heißen. Sind Sie irgendwie mit Ilona Reese verwandt?«
»Ilona Reese? Nein, der Name sagt mir nichts. Mein Mädchenname ist Ellingsen, Reese hieß mein Mann.«
»Ihr Mann? Kennt er sie vielleicht?«
»Wir sind geschieden. Aber ich könnte …«
»Oh, Entschuldigung. Ich wusste ja, dass ich das bereitstehende Fettnäpfchen finde.«
»Das macht nichts, ich treffe ihn hin und wieder, ich kann Damon mal fragen, ob er sie kennt.«
»Damon? Damon Reese?«
»Ja, das ist sein Name.«
»Und Sie kennen sie nicht? Ilona Reese war seine Mutter.«
»Oh!« Mehr fiel mir dazu nun wirklich nicht ein. »Sie war meine Zimmernachbarin hier, bis sie vor einem halben Jahr gestorben ist. Sie war keine sehr gesunde Frau, verstehen Sie. Erst vierundsechzig und schon so verwirrt. Aber wenn sie ihre lichten Momente hatte, war sie eine so sanfte, freundliche Dame. Wir haben oft zusammen im Garten gesessen. Aber ich bin schwatzhaft, meine Liebe. Kommen Sie am Mittwoch, und ich verspreche Ihnen, bis dahin eifrig über Ihr Problem zu grübeln.«
Ich gab ein paar passende Abschiedsworte von mir und musste mich dann erst einmal setzen. Wieder hatte mir jemand völlig unerwartet den Spiegel vorgehalten und mir meinen herzlosen egoismus gezeigt. Nie hatte ich Damon nach seiner Familie gefragt. Er hatte zwar auch nie ein Wort darüber verloren, und so hatte ich stillschweigend angenommen, dass sie mehr oder weniger nicht vorhanden war. Mir wurde mit einem Schlag ziemlich klar, was für ein Bild Damon damals von mir gehabt haben musste. Das war eine leicht erschütternde Erkenntnis. Eine herausfordernde Zigeunerin, die ihm in einer wilden Liebesnacht begegnete, eine verbitterte Schwangere, die ihn zur Ehe zwang und sich keinen Deut um seine Pläne, seine Zukunft, seine Beziehungen und seine Vergangenheit kümmerte, und schließlich eine kalte, abweisende Frau, die ständig ihr eigenes Leid und ihre Enttäuschung in den Vordergrund schob. Du meine Güte, solche Erkenntnisschübe hatten wirklich etwas Ernüchterndes an sich. Der einzige Zipfel Trost, den ich fand, lag in Damons Äußerung, ich habe mich doch sehr verändert. Na, hoffentlich in die richtige Richtung.
Was mich zu der Tatsache führte, dass ich mit Damon ja möglichst bald Kontakt aufnehmen musste, um mit ihm über Patricks Zukunft zu sprechen. Ich suchte also seine Telefonnummer heraus und hatte ihn erstaunlicherweise gleich am Apparat.
»Ah, Damon, schon Feierabend?«
»Nein, mein Telefon ist umgestellt. Was verschafft mir das Vergnügen?Hat dein Sohn etwas angestellt, für das ich geradestehen soll?«
»Schon ganz nahe dran. Mein Sohn hat heute sein Zeugnis bekommen.«
»Väterliche Strafpredigt? Aber, Amanda, das ist doch nicht nötig, das kannst du viel besser.«
»Drückst du dich?«
»Ich als alter Feigling? Natürlich!«
»Ist es nicht immer wieder erstaunlich, wie man sich gegenseitig verschätzen kann …«
»Tja, wenn es nur nicht so viele Wahrheiten gäbe!« Das Geplänkel bewegte sich gerade auf den Rand des Irrsinns zu, und ich tat, was ich konnte, um die Richtung zu wechseln.
»Damon, es ist ernst. Sonst würde ich nicht anrufen.«
»Ach, aus Spaß würdest du es natürlich nie tun.«
»Damon!«
»Was hat er angestellt?«
»Ein bestürzendes Zeugnis mit lauter Einsen mitgebracht. Ich fürchte, wir müssen uns über die weitere Ausbildung unterhalten. Er fängt an, sich zu langweilen!«
»Das hört sich schon wieder mehr nach meinem Sohn an.«
»Sag mal, kannst du nie ernst sein?«
»Doch, ständig, aber ich finde dich so erheiternd, wenn du versuchst, mir die Last der Erziehung aufzudrücken, die du mit Leichtigkeit zwölf Jahre alleine getragen hast.«
Die altbekannte Wut stieg in mir hoch, und ich merkte, wie sich meine Gesichtszüge verkrampften.
»Gut. Dann betrachte die Angelegenheit als erledigt. Entschuldige, dass ich dich belästigt habe.«
Ich wollte auflegen, aber er rief: »Halt, Amanda, bleib dran. Ich hätte dich heute sowieso deswegen angerufen. Ich habe ein paar Ideen wegen Patrick, die ich gerne mit dir besprechen möchte. Hast du morgen Nachmittag Zeit, dich mit mir zu treffen?«
»Henry ist hier. Wenn du herkommen möchtest …?«
»Gerne. Wann passt es dir?«
»Halb drei, drei Uhr.«
»Bis dann. Grüß deinen Vater von mir.«
Das tat ich, und Henry schien ausgesprochen erfreut, dass eine Familiensitzung anberaumt war. Patrick nicht, und in mir keimte ein ausnehmend hässlicher Gedanke, der etwas mit
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