Die Herrin des Labyrints
Tanztechnik.
Jeden Tag widmete ich mich ein oder zwei Stunden der häuslichen Unterwelt. Bald hatte ich säckeweise alte Kleidung weggeben, nach Mottenpapier muffelig riechende Pullover, Hemden, Anzüge, Kleider und Mäntel. Alles sehr solide Sachen, aber von tristen gedeckten Farben und wenig modischem Chic, wie es eben der Stil meiner Eltern war. Auch auf meine alten Kleider traf ich in den Abgründen der Wandschränke, Kinderkleider, dann auch die schaurigen modischen Entgleisungen der vergangenen Jahre,alte Jeans, die mir zeigten, dass sich nach Patricks Geburt meine Figur noch ein wenig mehr um die Hüften gerundet hatte. Aber rote Röcke und bunte Fransentücher waren nicht darunter. Kleider aus jener Zeit hatte ich einmal konsequent ausgesondert. Erschüttert wurde mir klar, dass auch ich in den letzten Jahren einen Hang zu eintönigen Farben entwickelt hatte. Einerseits natürlich auf Grund meiner Tätigkeit als Pflegerin – modischer Schnickschnack war nicht angesagt, wenn man Kranke badete und Bettschüsseln leerte. Auch mein gesellschaftliches Leben als alleinerziehende Mutter war nicht so aufregend, dass sich die Anschaffung eleganter Kleider gelohnt hätte. Vielleicht sollte ich mir aber in der nächsten Zeit wenigstens mal ein paar neue Blusen und Pullover für den Winter leisten, überlegte ich, während ich weiße Kittel und Hosen wegpackte.
Als ich endlich den Kleiderschrank ausgeräumt hatte, stand ich etwas ratlos vor dem Monstrum. Einst hatte er im Schlafzimmer meiner Eltern gestanden, jetzt füllte er die ganze Wand des Kellers aus. Es war ein Schiebetürenschrank, dessen Fronten verspiegelt waren. Die Glasflächen waren inzwischen blind und verschmiert, und in dem trüben Licht der einzelnen Birne konnte ich mich nur schemenhaft darin erkennen. Aber als ich so ein paar Meter entfernt davon stand, begann eine kleine Idee in mir zu keimen. Vielleicht könnte ich aus diesem Keller so etwas wie einen Trainingsraum machen. Bisher hatte ich meine Schritte und Bewegungen immer verstohlen im Schlafzimmer geübt. Einen Augenblick liebäugelte ich mit dem Gedanken, dann schob ich ihn wieder zur Seite. Warum den Aufwand treiben? Ob ich gut oder schlecht tanzte, war ziemlich egal, da ich ja nie aufzutreten gedachte.
Als Nächstes durchforstete ich die Regale, auf denen sich alte Elektrogeräte neben ausgesonderten Geschirrteilen, zusammengerollten Bettdecken und vor allem die Blumenvasen tummelten, die ich auch schon zu der Zeit, als sie unser Wohnzimmer geschmückt hatten, zu den geschmacklichen Ausrutschern meiner Mutter gezählt hatte. Ich sah keinen Sinn darin, diese Gräuel noch irgendeinem Sperrmüllsammler zuzumuten, und zerschlugsie mit großer Befriedigung am Mülltonnenrand. Patrick machte begeistert mit.
Alles Brauchbare und noch Funktionierende aus der Hinterlassenschaft verschenkte ich an ein paar sehr junge Mitstudenten, die dankbar ihre kargen Haushalte mit Grill, Toaster, Staubsauger, Besteck und Töpfen vervollständigten. Als nach weiteren zwei Wochen die Regale leer geräumt und der Rest entsorgt war, sah der Kellerraum richtig groß aus. Blieb noch ein weiteres deckenhohes Bord, auf dem alte Akten und Bücher standen. Ich betrachtete die Papierberge, und mich schauderte unwillkürlich. Mein Vater pflegte eine heilige Ehrfurcht vor dem gedruckten Wort. Er hatte alle möglichen Bücher aufgehoben. Reihenweise standen alte Schulbücher, Klassiker, Sachbücher, theologische Werke, aber auch Kochbücher und Romane da, und da ich sie für einen kleinen Betrag kiloweise an das Antiquariat abgeben wollte, musste ich sie einzeln in die Hand nehmen, um zu sehen, ob sich darin nicht noch irgendwelche privaten Aufzeichnungen befanden. Ich fand einiges dabei. Briefe von Freunden, ein Gedicht, das mein Vater für meine Mutter verfasst hatte und das den Augen der Öffentlichkeit besser verborgen blieb. Rezepte, Aufzeichnungen für den Unterricht, Ansichtskarten und ein paar getrocknete Blütenblätter.
Als ich alles gesichtet hatte, sortiert und ins Antiquariat geschafft hatte, blieben nur noch zwei Reihen mit Aktenordnern und ein paar Kisten übrig, in denen sich vermutlich sehr persönliche Andenken meiner Eltern befanden. Ich ließ die Sachen unberührt, weil ich mich aus einem unerklärlichen Grund nicht traute, noch tiefer in ihre Privatsphäre einzutauchen. Dafür machte ich mich über meine eigenen Andenken her, die sich ebenfalls häuften. Alte Spielsachen, eine komische Plüschkatze mit
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