Die Herrin des Labyrints
die der Stier entführt hat. Und der war eigentlich Zeus. Eine der ganz üblen, verdrehten Macho-Geschichten aus Griechenland. Europa war die große Göttin, die als weiße Kuh den Vollmond verkörpert. Sie ist eigentlich die Mondgöttin, die auf ihrem Opfer, dem Sonnenstier, reitet. Wusstest du, dass auf Kreta der Mondkuh-Göttin weiße Stiere geopfert wurden?«
Endlich konnte ich völlig aufrichtig und ehrlich antworten.
»Nein, das wusste ich nicht. Ich dachte immer, auf Kreta wurden junge Männer und Mädchen dem Stier geopfert. Aber deine Ausführung wirft natürlich ein ganz anderes Bild auf die Sache.«
»Du solltest mal mit den Lehrern reden, die den Kids solchen antiquierten Unsinn vorsetzen. Es wird Zeit, dass mit diesen ganzen sexistischen Verballhornungen aufgehört wird.«
»Da hast du wahrscheinlich völlig recht, aber ich kenne mich mit dieser Materie nicht so gut aus, dass ich einem Altphilologen Kontra geben könnte. Was gibt es sonst Neues in der Szene?«
»Ach, nicht viel. Nandi ist furchtbar beschäftigt und kommt kaum noch nach Hause. Meiner Mutter geht es nicht besonders, die Ärzte haben Herzprobleme bei ihr festgestellt, und Valerie ruft hier laufend an, weil sie irgendwas mit Nandi klären muss. Die Frau geht mir auf den Geist!«
Über all diese Schwierigkeiten hin vergaß Nicole zum Glück, sich intensiver nach meinem Befinden zu erkundigen, und als ich nach einer halben Stunde endlich das Telefonat beenden konnte, war ich mit ihrem Seelenleben wieder auf das Innigste vertraut. Weitergeholfen hatte sie mir allerdings nicht, denn dass die Sage von Zeus und Europa nun eine ganz andere als die von Theseus und Ariadne und vor allem kein Labyrinth enthielt, das konnte sogar ich mit meinen geringen Kenntnissen auseinanderhalten.
Halima rief mich später zurück, und sie erwies sich als etwas kompetenter.
»Das ist eine interessante Frage, Amanda. Wenn du etwas Zeit hast, dann besuche ich dich am Wochenende.«
KAPITEL 40
Der Weg der Tänzerin
Gut eine Woche nach dem Unfall fühlte ich mich wieder einigermaßen fit, wenn auch noch nicht alle Blessuren verheilt waren. Aber mir wurde wenigstens nicht mehr schwindelig, wenn ich mich anstrengte, und wenn ich mich auch noch nicht traute, mit Patrick Tischtennis zu spielen, so konnte ich Halima doch wenigstens einen Spaziergang vorschlagen, als sie am Samstagnachmittag vorbeikam.
»Das mir, Amanda? Ich bin keine Naturfanatikerin.«
»Ich weiß, deine Welt sind die nächtlichen Gefilde, die rauchgeschwängerten Bars und Restaurants und das grelle Licht der Bühnenscheinwerfer.«
»Na, ganz so schlimm ist es auch nicht mehr. Eine kleine Runde in dieser erschreckend frischen Luft wird mich wohl nicht direkt umbringen.«
»Gut, ich lahme auch noch ein kleines bisschen, du wirst dich meinem Tempo anpassen können.«
Halima sah auch in hellen Leinenhosen und Bluse hinreißend aus, aber es war mehr ihre königliche Haltung, die die anderen Spaziergänger dazu brachte, sich nach ihr umzudrehen.
»Du bist also wieder auf der Suche, Amanda?«
»Auf ziemlich unbekanntem Terrain diesmal.« Ich erklärte auch ihr, warum ich mich inzwischen um die Bedeutung der Münze kümmerte.
»Der Ansatz scheint mir sinnvoll. Welche Fragen hast du denn dazu im Besonderen?«
»Die erste hat nicht direkt etwas mit der Münze zu tun, sondern mit einer Bemerkung, die Henry gemacht hat. Er vermutet, Gita habe mich als ihre Enkelin erkannt.«
»Oh, interessant. Aber es liegt doch nahe. Sie kannte ihre Tochter, und du wirst ihr in bestimmten Dingen sehr ähnlich sein. Kleinigkeiten manchmal, Gesten, ein bestimmter Gesichtsausdruck, ein Tonfall. Gita hatte ja durch ihre Krankheit bedingt viel Zeit, dich zu beobachten und Vergleiche anzustellen.«
»Aber warum hat sie es mir nicht gesagt?«
»Hättest du ihr denn geglaubt?«
»Wahrscheinlich schon. Warum nicht? Ich frage mich mein Leben lang, wer ich bin.«
»Meinst du nicht, die Antwort könnte zu der Zeit für dich zu einfach gewesen sein?«
Darüber musste ich eine Weile nachdenken. Wie hätte ich in meiner Situation, ausgebrannt, verbittert und unzufrieden, eine solche Offenbarung wohl aufgenommen? Wahrscheinlich mit purem Unglauben, zumal ja keinerlei Beweise existierten, nur die Aussage einer alten, dem Tode nahen Frau. Uns allen erschien damalsallein schon die Vorstellung, dass es überhaupt eine Enkelin geben sollte, als Wunschdenken von Gita.
»Du hast recht, Halima. Ich hätte es für eine Spinnerei
Weitere Kostenlose Bücher