Die Herrin des Labyrints
gehalten.«
»Das wird die alte Dame geahnt haben. Darum hat sie dir die Aufgabe gegeben, die unbekannte Enkelin zu suchen. Sie wusste vermutlich, dass du dabei Schritt für Schritt auf die Wahrheit stoßen würdest, wenn du dich mit ganzem Herzen darum kümmerst.«
»Ich bin aber erst dahintergekommen, nachdem ich dich gefunden hatte, Halima. Das hat sie kaum vorhersehen können.«
»Unsinn, du wärst auch über Henry darauf gestoßen. Übrigens – Henry und ich sind uns schon einmal begegnet. Als ich ihn letzte Woche getroffen habe, erinnerte er sich auch wieder an mich. Wir hatten uns bei Josiane gesehen. Es war mir damals entsetzlich peinlich. Ich hatte gerade eines der Abendkleider von ihr an und posierte vor dem Spiegel, als er hereinkam. Im ersten Moment hat er mich mit ihr verwechselt. Er hat mich mit Schwung in die Arme genommen und geküsst. Als Josiane eintrat, standen wir beide mit hochroten Ohren da und entschuldigten uns nach allen Seiten.«
Ich musste lachen, so verlegen konnte ich mir Halima überhaupt nicht vorstellen.
»Also gut, darüber hätte ich dich auf die eine oder andere Weise auch gefunden. Oder vielleicht, wenn meine Adoptiveltern mir die Münze ausgehändigt hätten, anstatt sie schamhaft unter Verschluss zu halten, wäre das der auslösende Hinweis gewesen. Insofern hat Gita sicher sehr gradlinig gedacht.«
»Viel gradliniger als deine Suche, nicht wahr? Also müssten wir auch den Rest sehr einfach finden können, wenn wir nicht zu kompliziert denken.«
Wir gingen einige hundert Meter, beide in Gedanken versunken. Über uns rauschten die jungen Blätter der Bäume, und grüngolden gesprenkeltes Licht erreichte den Boden. Zahllose Vögel schmetterten ihre Gesänge in die warme Luft und schwirrten auf, wenn wir zu nahe an ihren Revieren vorbeigingen.
»Sie wollte, dass du dich mit dem Erbe identifizierst, denke ich. Sie hat dir außer den materiellen Werten noch etwas anderes mitgeben wollen, Amanda. Eine Tradition, eine Einstellung, einen inneren Bezug zu etwas, das ihr wichtig war. Deshalb sollst du dieses Rätsel lösen. Kennst du diesen Bezug, wird es ganz simpel sein.«
»Genau zu dem Punkt bin ich auch gekommen«, sagte ich, denn ich erinnerte mich an die Worte des Notars. »Sie habe eine etwas eigenwillige Lebensanschauung gehabt, hat ihr juristischer Berater gesagt. Er hat das mit einem gewissen Naserümpfen geäußert, weil er ihre weltanschaulichen Einstellungen extravagant fand. Ich werde ihn fragen müssen, was er damit meinte. Auf jedenfalls waren sie nicht traditionell christlich.«
»Hat sie mit dir je darüber gesprochen?«
»Sehr wenig. Sie hat allerdings kurz vor ihrem Tod eine ziemlich ungewöhnliche Beichte abgelegt. Ich habe sogar noch den Zettel, auf dem sie die Aussagen notiert hat. Weißt du, normalerweise würde man ja seine Sünden aufzählen und dann um Vergebung bitten, aber sie hat es umgekehrt gemacht. Sie hat aufgezählt, was sie nicht getan hat.«
»›Ich habe kein Unrecht gegen die Menschen begangen, und ich habe keine Tiere misshandelt. Ich habe nichts Unrechtes anstelle von Rechtem getan …‹«
»Wie bitte?«
»Ist es das?«
»Ja. Aber woher weißt du, was Gita gesagt hat?«
»Weil es ein sehr, sehr alter Text ist. Er steht in den Totenbüchern der alten Ägypter und nennt sich das ›negative Bekenntnis‹.«
Mir wurde plötzlich kalt, und die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf.
»›Ich habe kein Waisenkind um sein Eigentum gebracht.‹ Das steht auch darin.«
»Ja, das gehört auch dazu. Soviel zur Extravaganz ihrer weltanschaulichen Einstellung. Komm, setzen wir uns einen Moment auf diese verlockende Bank da in der Sonne.«
»Machst du schlapp?«
Halima lachte auf. »Du solltest wissen, dass meine Kondition besser ist. Nein, ich finde es einfach schön hier.«
Wir setzten uns auf die warme Holzbank und spannen unsere Fäden weiter.
»Ob sie eine Anhängerin irgendwelcher altägyptischer Kulte war?«, fragte ich mich laut.
»Möglich ist alles. Dann solltest du auf Anzeichen von Geheimorden oder Logen achten, es gibt da einige, die sich auf diese Glaubensrichtung beziehen.«
»Sind das ernstzunehmende Gemeinschaften?«
»Ich halte sie für eine Ansammlung harmloser Spinner, die einen starken Hang zur Theatralik und Selbstdarstellung haben. Die meisten lassen sich gerne in exotischen Kostümen ihr Ego beweihräuchern.«
»Also genau das, was du auch machst, wenn du im Glitzerkostüm tanzt«, konnte ich mir nicht
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