Die Herrin Thu
abartige und dennoch geheimnisvolle Schöpfung der Götter, dieser schwierige und schöne Mann, und meine Liebe zu ihm war eine Wunde, die nie heilen würde. Das hatte Ramses richtig gesehen. Richtig und scharfsinnig. Und in seiner Güte hatte er mir das einzige Geschenk gemacht, das alles übertraf, was seine Schatzkammern bargen. Ich ging zu der Rolle, hob sie auf und riß sie entzwei.
„Hui, du bist frei und kannst gehen“, sagte ich knapp. „Wenn du willst, kannst du Ägypten verlassen. Ich weigere mich, die Bedingungen des sogenannten Handels anzunehmen. Ich werde die Behörden nicht benachrichtigen. Ich unternehme überhaupt nichts. Ich wünsche weder deinen Tod noch deine Knechtschaft.“ Ich zeigte auf die Tür. „Freiheit, Seher.“
Er rührte sich nicht. Er blickte weder in meine Richtung, noch auf meinen Finger. „Freiheit wozu?“ sagte er mit rauer Stimme. „Um in mein Haus in Pi-Ramses zurückzukehren, wo noch immer die Stimme meines Bruders widerhallt und das Öl wartet, um mir tote Visionen und nutzlose Trugbilder zu zeigen? Wo mein Garten nach den verlorenen Jahren duftet, deinen wie meinen? Diese Art Freiheit will ich nicht. Lieber den Tod. Ich kann mir nicht länger etwas vormachen, Thu. Ich brauche dich. Mein Herz, meine Seele, alles ist unvollkommen ohne dich. Das mußt du mir glauben. Du sagst, daß du weder meinen Tod noch meine Knechtschaft wünschst. Aber wenn du mich zwingst, durch die Tür da zu gehen, verurteilst du mich zu beidem, denn niemand kann leben, der nur vergangenen Zeiten dient.“
Als ich in diese feurigen roten Augen blickte, erkannte ich, daß es einerlei war, was ich glaubte. Vielleicht log er, vielleicht bewies sich am erregten Heben und Senken seiner nackten weißen Brust am Ende doch die Wahrheit. Ich wußte nur, daß ich keine Wahl hatte. Ein Leben ohne ihn würde nichts weiter sein als eine sinnlose, immer wiederkehrende Abfolge kleiner Aufgaben und oberflächlicher Freuden ohne den Tiefgang von Leidenschaft oder Schmerz, und durch das seichte Wasser eines sinnlosen Lebens würde ich meinem Ende entgegentreiben. Der Gedanke war unerträglich. „Dann rufe Harshira“, sagte ich. „Vermutlich ist er auch hier. Sag ihm, er soll Erfrischungen bringen, und dann bereden wir, was wir tun sollen. Doch zuvor gibt es noch eine Frage, die du mir stellen mußt. Etwas, was ich seit langem sehnlichst hören möchte, Hui. Worte, die aus deinem Mund kommen müssen, damit die Vergangenheit mit all ihrem Bösen machtlos wird und wir noch einmal von vorn anfangen können.“ Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Augen wurden schmal. Er zuckte mit keiner Wimper. Äußerlich gelassen wartete ich, während sich in mir alles verkrampfte, denn ich wußte, mein ganzes Leben, meine ganze Zukunft hingen von seinen Worten ab.
Dann huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. „Liebe Thu“, sagte er leise. „Kannst du mir das schreckliche Unrecht verzeihen, das ich dir angetan habe? Daß ich dich benutzt und verlassen habe? Daß ich deine Vernichtung geplant und dir deine Jugend geraubt habe? Kannst du mir verzeihen? Willst du es versuchen?“
Lange, lange bewegten wir uns beide nicht. Wir standen da und blickten uns an, während uns die Tageshitze allmählich schläfrig machte und die Vögel im Garten hinter dem Haus verstummten.
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