Die Herrin Thu
Ich sah nur noch die dunklen Stämme und verschlungenen Äste der Bäume, die den Kanal säumten. Die Sonne war untergegangen, und die Lampe, die am Heck hing, warf einen dunkelgoldenen Schein auf das spiegelglatte Wasser, der von der zunehmenden Finsternis am Ufer verschluckt wurde. Behutsam hoben und senkten sich die Riemen und zogen silbergrauen Schaum hinter sich her.
Schon bald lag der Kanal hinter uns, wir erreichten den Residenzsee, und nun glitten die Anwesen der Edelleute vorbei, mit erleuchteten Bootstreppen und Schiffen und Booten, auf denen auch Lampen hingen. In der Stadt, die der Mittelpunkt der Welt war, hatte eine festliche Nacht begonnen, doch ich gehörte nicht mehr dazu. Das wollte ich auch gar nicht. Dieser flüchtige Anfall von Traurigkeit bezeugte eine gewisse Sehnsucht, einen kurzen und jähen Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, mehr nicht. Ich dachte nicht mehr. Die Bewegung des Bootes beruhigte mich. Die zunehmende Dunkelheit umfing mich. Ich merkte gar nicht, daß sich Kamen neben mich aufs Deck gesetzt hatte, bis er redete.
„Wir kommen jetzt zu den Wassern von Avaris“, sagte er. „Für dich sind Wein und kaltes Essen vorbereitet. Möchtest du essen, während du zuschaust, wie die Stadt an dir vorbeizieht, oder möchtest du in die Kabine gehen?“ Ich legte die Hand auf seinen Kopf, spürte, wie voll und kräftig sein schwarzes Haar war, wie warm seine Kopfhaut.
„Ich mache mir nichts mehr aus der Stadt“, sagte ich. „Das Leben, das ich dort gelebt habe, ist im Palast und in nicht gekennzeichneten Gräbern irgendwo in der Wüste jenseits des Deltas zurückgeblieben. Laß uns in die Kabine gehen.“
Eine an der Wand befestigte Lampe beschien die auf dem Fußboden verteilten Polster, einen niedrigen Tisch voller Schüsseln und die schmale Pritsche, die schon mit meiner Bettwäsche bezogen war. Neben dem Tisch kniete Isis und wartete darauf, uns zu bedienen. Sie errötete, als Kamen sie freundlich begrüßte. Draußen hörte ich, wie Wachtposten uns anriefen und darauf die Antwort unseres Kapitäns, und da wußte ich, daß der Residenzsee hinter uns lag.
Ich ließ mir von Isis einen Becher geben, in dem dunkler Wein schwappte, und erhob ihn. „Auf meinen Schutzgott Wepwawet, auf den Vollkommenen Gott Ramses und auf seinen Sohn, den Falken-im-Nest“, sagte ich. „Leben, Gesundheit und Wohlstand für uns alle.“ Darauf tranken wir, dann stürzten wir uns auf das Essen, und als Kamens anmutige Finger ein knackiges Salatblatt zerrupften, ging mir unversehens auf, daß ich zum ersten Mal seit vielen Jahren sehr glücklich war.
Wir ruhten noch einige Stunden auf den Polstern und plauderten ungezwungen über Kamens Jugendjahre, seine militärische Ausbildung, seine wachsende Liebe zu Takhuru, seine künftigen Ziele und ich über meine Zeit mit dem König. Von meiner eigenen Jugend in Huis Haus oder von den Verbannungsjahren in Aswat mochte ich nicht schon wieder sprechen, und Kamen, der mein Zögern spürte, bedrängte mich nicht. Wir hatten uns viele lustige Sachen zu erzählen und lachten oft, ehe er mich auf die Wange küßte und sein Lager unter dem Sonnensegel aufsuchte, das außen an der Kabinenwand angebracht war, während ich mich auf die schmale Pritsche legte und Isis sich in die Polster an der Tür kuschelte.
Als ich aufwachte, hatten wir das Delta hinter uns gelassen und waren gerade an den Pyramiden vorbeigekommen, die überall verstreut auf der Hochebene am Westufer standen. Der Morgen war kühl und verheißungsvoll. Ich stand blinzelnd im Kabineneingang und betrachtete ein Weilchen die hellgelben Hügel vor dem strahlend blauen Himmel, die sich so scharf abzeichneten, als wären ihre Umrisse mit einem Messer eingeritzt. In der Nähe markierte eine Palmenreihe die Uferstraße. Der Nil schimmerte und spiegelte die Farbe des Himmels, und an seinem Ufer, wo Binsenbüschel wuchsen, begrüßten die Vögel zwitschernd und pfeifend den neuen Tag. Auf dem Deck kniete Isis, umgeben von Schüsseln, in denen sie Essen anrichtete. Mir gegenüber kämpften die Ruderer mit gebücktem, schweißnassem Rücken gegen die Strömung an, denn wir befuhren den Fluß in Richtung Süden, und wenn er auch nicht mehr hoch ging und alles überschwemmte, so hatte er dennoch eine schnelle Strömung. Über mir bauschte sich das gelbe Segel im vorherrschenden Nordwind, und vom Mast wehten die königlichen Farben meiner Flagge.
Kamen stand auf die Arme gestützt an der Reling. Er war barfuß und trug
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