Die Herrin von Avalon
anfing, sich von mir abzuwenden ... «
Taliesin schmerzte die Bitterkeit in ihrer Stimme. »Dabei war sie eine so liebevolle Mutter, als Igraine noch klein war.«
»Ich habe gehört, daß manche Frauen so sind. Sie freuen sich, wenn sie schwanger sind, und lieben kleine Kinder über alles. Aber sie scheinen nicht zu wissen, was sie mit ihnen anfangen sollen, sobald die Kinder einen eigenen Willen bekommen.«
»Du bist klug.« Er nickte über die Wahrheit ihrer Worte. »Ich bin sicher, du wirst diesen Fehler bei deinem Kind nicht machen.«
Viviane blickte auf das Wasser. Aus ihrem Gesicht wich alle Farbe, und zwar so plötzlich, daß er glaubte, sie würde ohnmächtig werden.
»Mein Kind?« Instinktiv legte sie die Hand in einer schützenden Geste auf ihren Leib.
»Ich vermute, um Beltane wird es ... « Als er ihre Verwirrung sah, fügte er stirnrunzelnd hinzu: »Meine liebe Viviane, du weißt es doch sicher!«
Sie hatte es nicht gewußt. Das wurde Taliesin klar, als sie abwechselnd rot und blaß wurde. Er griff nach ihrer Hand. »Komm schon, das ist ein Grund zur Freude! Ich nehme an, es ist Vortimers Kind!«
Viviane nickte und versuchte zu lächeln, doch sie weinte. Es war das erste Mal, daß sie Tränen vergoß, seit sie die Leiche ihres Geliebten nach Avalon gebracht hatte.
An Samhain, wenn die Toten zurückkommen, um mit den Lebenden ein Festmahl zu halten, und die Göttin ihre sechsmonatige Herrschaft beendet und an den Gehörnten, den Herrscher des Winters, übergibt, zogen die Menschen in ganz Britannien in Strohkostümen singend und tanzend durch die Dörfer.
Das kleine Volk benutzte Boote mit Fackeln, deren Lichter wie flüssige Flammen über das Wasser glitten. Auf der Insel der Christen sangen die Mönche die ganze Nacht über ihre Gesänge, um die bösen Mächte zu vertreiben, die in den dunklen Stunden unterwegs waren, wenn sich die Pforten zwischen den Welten öffneten. Ein unglückseliger Mönch, der von der Kirche in seine Zelle eilte, sah Lichter auf dem Wasser, die in die Nebel eintauchten und verschwanden. Aber er sprach mit niemandem darüber.
Für das kleine Volk war es eine Zeit der Freude, denn in dieser Nacht vollendete sich für sie wie an Beltane der Halbkreis eines Jahres.
Die Hohepriesterin saß auf einem Thron aus geflochtenen Zweigen, über den ein weißes Pferdefell gebreitet lag. Er stand vor dem großen Feuer auf der Wiese unterhalb der heiligen Quelle. Bald war es Mitternacht, und die Menschen tanzten immer ausgelassener. Die Erde dröhnte unter dem Stampfen nackter Füße und dem Schlagen der Trommeln. Ana trug die Mondsichel der Göttin auf Brust und Stirn. Sonst war sie nackt, denn in dieser Nacht war sie für alle die Priesterin der Großen Mutter. Die Zeit für das Mahl war noch nicht gekommen, doch das Heidebier floß in Strömen. Es enthielt nicht sehr viel Alkohol, doch wenn man genug trank, stellte sich ein angenehmes Gefühl der Benommenheit ein. Ana trank Quellwasser aus einem silbergefaßten Horn. Wie ihr Schmuck war es sehr alt. Vielleicht lag es an dem betäubenden Dröhnen der Trommeln, daß sie am liebsten gelacht hätte. Als sie erlebte, wie ihre Tochter in der ersten Zeit der Schwangerschaft aufblühte, glaubte sie, uralt zu sein. Aber in dieser Nacht war sie wieder jung.
Sie blickte auf den Gipfel des Tors, wo die Fackeln wie Feenlichter über den dunklen Himmel zogen. In gewisser Hinsicht waren sie auf Avalon wie die Feen, denn man sagte, daß die Geister derer, die weder die Ebenen der Welt verlassen hatten noch wiedergeboren worden waren, für einige Zeit im Feenreich weilten. In dieser Nacht boten sich die Priester und Priesterinnen den Ahnen als Opfer an und erlaubten den Geistern der Vorfahren, ihre Körper zu verdrängen, damit sie das Festmahl mit den Lebenden teilen konnten. Menschen, die zu anderen Zeiten Geister und Feenvolk gleichermaßen mieden, hießen sie in dieser Nacht willkommen.
Auch Viviane beobachtete den Tor mit einer gespannten Aufmerksamkeit, die ihre Mutter beunruhigte. Glaubte sie, ihr Geliebter werde zurückkommen? Ana hätte es ihr sagen können - die Toten blieben ein Jahr und einen Tag im Sternenland, damit ihre Seelen geheilt wurden. Zu große Trauer konnte die Reinigung behindern. Man durfte sie vor Ablauf dieser Zeit nicht zurückrufen. Eine Seele, die in der Welt etwas Unerledigtes zurückgelassen hatte, mochte dagegen in der alten Umgebung verweilen. Ließ das Leid der schwangeren Viviane ihren Geliebten nicht los
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