Die Herrin von Avalon
zurück zum Feuer halfen. Sie war versucht, selbst ins Wasser zu blicken, doch der Teich enthüllte seine Geheimnisse selten mehr als einer Seherin. Außerdem wollte sie das Kind nicht gefährden ... Vortimers Kind.
In was für eine Welt würde es hineingeboren werden?
Er hatte sie gebeten, ihn an der Sachsenküste zu begraben, aber in ihrem Leid konnte sie nur an Avalon denken. Er hatte nie geglaubt, daß sein Geist selbst in größter Not mehr als einen kleinen Teil Britanniens schützen könnte. Sie dachte, auf dem Hügel des Wächters werde seine Kraft verstärkt, und er könne über alle wachen. Wenn sie sich irrte, hatte sie ihn sogar bei seinem Begräbnis verraten.
Fünf Jahre ...
Falls Anas Vision richtig war, hatte ihnen Vortimers großer Sieg nur diese kurze Spanne geschenkt, um in Britannien wieder Ordnung herzustellen. Doch Viviane wollte keinen neuen Krieg, sie wollte sich in ein weiches Nest verkriechen und darauf warten, daß ihr Kind geboren wurde.
Als sie zum Feuer zurückging, sah sie, daß sich ihre Mutter von der Trance erholte und wieder auf dem Thron saß.
Sie sollte im Bett liegen , dachte Viviane kopfschüttelnd. Ana wirkte erschöpft. Die Leute vom kleinen Volk umschwärmten sie geschäftig. Sie kam sehr schnell wieder zu Kräften.
Weshalb braucht sie diese Bestätigung , dachte Viviane. Sie ist seit mehr als zwanzig Jahren Königin dieses Schwarms ... Aber wenigstens kann ich schlafen gehen, wann ich will! Niemand wird bemerken, daß ich nicht mehr da bin!
Sie drehte sich um und wollte den Pfad durch den Obstgarten nehmen, blieb jedoch wie angewurzelt stehen. Jemand - etwas - beobachtete sie. Er oder es stand zwischen den Bäumen genau auf der Grenze zwischen Feuerschein und Dunkelheit.
Es ist ein Schatten , sagte sie sich, aber es veränderte sich nicht durch das Flackern des Lichts.
Es ist ein Baum!
Sie kannte jeden Baum im Obstgarten, und dort hätte eigentlich keiner sein dürfen. Mit wild klopfendem Herzen schärfte sie die Sinneswahrnehmungen der ausgebildeten Priesterin und spürte ...
Feuer ... Dunkelheit ... die Gier eines Raubtiers und das Entsetzen seiner Beute ...
Viviane stieß einen Klageruf aus, und das Wesen regte sich, als habe es sie gehört.
Zwischen den Zweigen tauchte ein Hirschgeweih auf, das mit rotem Herbstlaub umwunden war. Der Flammenschein glühte rot auf zusammengenähten Fellen, glänzte auf Schmuck aus Kupfer und Knochen und schließlich auf muskulösen Beinen, als ER aus dem Baumschatten hervortrat. Der Kopf mit dem Geweih drehte sich, und in dunklen Augenhöhlen leuchtete es rot.
Viviane blieb mit weit aufgerissenen Augen regungslos stehen. Ein uraltes Wissen riet ihr, nicht davonzulaufen.
Jemand sah ihr Entsetzen und deutete auf sie. Die große Versammlung verstummte. Mit gefährlicher Anmut kam der Gehörnte vorwärts. ER hielt einen Speer in der Hand, den Viviane zuletzt in der Schatzkammer gesehen hatte, wo er neben dem Gral an der Wand lehnte. Vor Viviane blieb ER stehen. Sein schaukelnder Schmuck klirrte noch einen Augenblick, dann herrschte Stille.
»Fürchtest du dich vor MIR?« SEINE Stimme klang hart und kalt. ER klang nicht wie jemand, den sie kannte.
»Ja ... « flüsterte sie. Die Speerspitze wanderte langsam von ihrer Kehle zu ihrem Leib.
»Das ist nicht nötig ... noch nicht ... « Der Speer wurde zurückgezogen. Er schien plötzlich das Interesse an ihr zu verlieren und schritt weiter.
Vivianes Beine gaben unter ihr nach, und sie sank zu Boden. Der Gehörnte ging zwischen den Menschen hindurch. Manche beachtete er nicht, aber andere berührte er mit dem Speer. Starke Männer zitterten. Eine Frau wurde ohnmächtig. Doch andere richteten sich hoch auf, nachdem er mit ihnen gesprochen hatte, und in ihren Augen leuchtete das Wissen, von dem Gehörnten auserwählt zu sein. Schließlich stand er vor dem Thron der Herrin.
»Als die Sonne heiß vom Himmel schien, hat unsere Mutter, die Erde, schwer gearbeitet. Sie hat Seele und Körper gesegnet, aber nun kommt für sie die Zeit der Ruhe. Herrin des Sommers«, fuhr ER fort, »die Zeit des Lichts geht zu Ende. Übergib mir deine Herrschaft.«
Das Feuer brannte niedrig. Sein ins Übermaß vergrößerter Schatten fiel auf ihren Thron.
Die Hohepriesterin erwiderte stolz: »Sechs Monde lang hat sich alles Leben an meinem strahlenden Glanz erfreut. Dank meiner Macht trug die Erde Frucht, und die Rinder auf den Weiden wurden fett. Die Herrschaft des Sommers brachte Reichtum und Fülle.
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