Die Herrin von Avalon
oder quälten Vortimer Schuldgefühle, weil er etwas ungetan gelassen hatte?
Jemand warf mehr Holz auf das Feuer, und Anas Blick folgte den sprühenden Funken, die in die Luft stiegen, bis sie sich zwischen dem kalten Sternenlicht am Himmel verloren. Es war bald Mitternacht. Ihre Spannung wuchs.
Der Wächter an der Quelle stieß einen langen klagenden Ruf aus, der den Lärm der Tanzenden übertönte. Die Fackeln kamen auf dem Prozessionsweg langsam nach unten. Die Trommler hoben die Hände, und plötzlich trat Stille ein.
Das Trommeln setzte ganz leise wieder ein. Es war ein beharrlicher Herzschlag, der in den Körpern und in der Erde widerhallte. Als sich der Zug näherte, wichen die Menschen zurück und setzten sich neben die Speisen, die sie mitgebracht hatten. Die Gesichter der Priester verschwanden unter weißer Farbe. Ihre Körper bedeckten aufgemalte Zeichen, die bereits uralt gewesen waren, als die Priester von Atlantis auf diese Insel kamen.
In dieser Nacht fand ein uraltes Ritual statt. Ana entdeckte Taliesin nicht, obwohl es schwierig war, überhaupt jemanden zu erkennen. Niemand wußte im voraus, wem es zufiel, den Gehörnten zu verkörpern. Ihr Puls schlug vor Erwartung schneller.
Die Ahnen umkreisten im Gleichschritt das Feuer. Die Menschen riefen Namen, und die namenlosen weißen Gesichter schienen sich zu verändern. Sie wurden plötzlich zu Personen. Eine Frau erkannte einen der Tänzer und jubelte vor Freude laut auf. Hinkend und murmelnd wie ein alter Mann verließ die Gestalt den Kreis und setzte sich neben sie. Ein Mädchen, vielleicht die Tochter, kniete vor ihm nieder und klopfte auf ihren Bauch, während sie ihn bat, in ihrem Leib wieder Menschengestalt anzunehmen.
Einer der Ahnen nach dem anderen nahm am Mahl teil. Viviane hatte ihr Kommen mit einer Mischung aus Hoffnung und Schrecken beobachtet und wandte sich jetzt weinend ab. Ana schüttelte den Kopf. Vielleicht, wenn Viviane es dann immer noch wollte, würde sie Vortimer im nächsten Jahr sehen und ihm ihr Kind zeigen.
Ihre Mundwinkel zuckten. Sie hatte ihr erstes Kind sehr viel früher geboren. Trotzdem schien es nicht richtig, daß ihre Tochter schwanger sein sollte. Beim Tanz der Riesen war Ana die Alte gewesen. Ihre Blutungen hatten mehrere Monde ausgesetzt, und sie war bereit gewesen, allen zu sagen, sie sei nun eine alte Frau. Doch dann hatten die Blutungen wieder eingesetzt. Ana glaubte inzwischen, daß Sorgen und Aufregungen für das Ausbleiben verantwortlich gewesen waren. Sie war immer noch im besten Alter.
Eine Frau aus dem kleinen Volk kniete mit einer Platte vor ihr und bot ihr dampfendes, in Streifen geschnittenes Rindfleisch an. Anas Magen knurrte, denn sie hatte das rituelle Fasten eingehalten. Trotzdem schickte sie die Frau mit einer freundlichen Handbewegung weg. Um sie herum war das Mahl in vollem Gange. Einige Ahnen waren gesättigt und verließen die Körper, die sie aufgenommen hatten. Man führte die Priester zur Quelle, damit sie sich waschen und selbst etwas essen konnten. Ana fühlte ein Kribbeln in ihrem Körper und wußte, daß die Gezeiten der Sterne wechselten. Bald würden die Wege zwischen Vergangenheit und Zukunft offenstehen und die Welten miteinander verbinden.
Aus dem Beutel an ihrer Hüfte nahm sie drei winzige Pilze, die ihr eine der weisen Frauen von Herons Stamm gebracht hatte.
Sie waren noch fest und frisch. Ana verzog den Mund, weil sie bitter schmeckten, kaute sie aber trotzdem langsam. Die erste Welle der Verwirrung trug sie bereits davon, als Nectan zu ihr trat und sich verneigte.
»Es ist Zeit, die Quelle wartet. Laß uns sehen, welches Geschick sie für uns alle bereithält ... «
Ana schwankte beim Aufstehen und lächelte über das ängstliche und neugierige Flüstern, das durch die Menge ging. Der alte Druide stützte sie. Zusammen gingen sie den Hügel hinauf. Der Spiegelteich lag still im Sternenlicht. Das umgekehrte Bild des Jägers der Welten schritt durch seine Tiefen, als er am Himmel aufstieg. Gespiegeltes Flammenlicht wirbelte schwindelerregend über die Wasseroberfläche. Die Hohepriesterin schickte die Fackelträger mit einer Geste zurück. Die Menschen stellten sich schweigend um den Teich auf.
Viviane trat vor, um in das Wasser zu blicken, wie sie es seit der ersten Vision immer an Samhain getan hatte. Aber Ana zog sie zurück. »Dummes Ding, du kannst nichts sehen, wenn du ein Kind erwartest!«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Es war nur schwieriger, denn
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