Die Herrin von Avalon
Tafel wurde es still. Caillean seufzte und antwortete leise: »Er ist ein Waisenkind. Ich weiß zwar nicht, was ihr hier gehört habt, aber soviel ist richtig, die Hohepriesterin von Vernemeton ist tot. Es kam zu einem Aufstand. Die Priesterschaft der Druiden im Norden hat sich aufgelöst. Einige der Priesterinnen sind ebenfalls tot«, sie zögerte kurz und fügte dann tonlos hinzu, »auch Dieda ... « Niemand wagte zu atmen. Die Last der Wahrheit legte sich über alle wie die Asche nach einem Brand. »Ich bezweifle, daß Vernemeton überleben wird. Das bedeutet, wir hier sind die einzigen, die das alte Wissen hüten und weitergeben können. Es ist traurig, aber wahr, die Menschen haben wieder einmal ein Heiligtum der Göttin endgültig zerstört.«
Ein Windstoß traf das Schilfdach. Die Priesterinnen auf den Bänken ließen in stummer Klage die Köpfe sinken. Caillean blickte sie ernst alle der Reihe nach an.
Wenn sie glauben, die Römer hätten Eilan und die anderen getötet, dann ist das vielleicht besser so .
Sie mochte Bendeigid, den neuen obersten Druiden, nicht. Doch obwohl er den Verstand verloren hatte, war er immer noch einer der Ihren.
»Ist ... Dieda wirklich tot?« Keas helle Stimme klang belegt. Flüsternd fuhr sie fort: »Aber sie wollte mir in diesem Winter die alten Gesänge beibringen. Wie sollen die Novizinnen das Wissen der Barden von Eriu von mir lernen?« In ihren grauen Augen standen Tränen. »Das ist ein großer Verlust!«
Cailleans Lippen wurden schmal.
Ja, es ist ein großer Verlust. Aber nicht nur Diedas Wissen und Können sind verloren, auch die Priesterin, die sie hätte sein können, wird uns fehlen. Und alles nur, weil sie dem Haß nachgegeben hat ...
Diese Lektion durfte auch Caillean nicht vergessen, wenn Bitterkeit und Selbstvorwürfe sie zu überwältigen drohten.
»Ich werde dir Unterricht geben ... «, sagte sie ruhig zu Kea. »Ich kenne zwar nicht die Geheimnisse der Barden von Eriu, dafür aber alle heiligen Gesänge und die geheimen Riten der Priesterinnen von Vernemeton.«
Kea wurde vor Verlegenheit rot. »Ich weiß, daß du singen und die Harfe spielen kannst.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Bitte, Caillean, sing etwas für uns. Es ist schon lange her, daß wir dir zugehört haben, wenn wir am Feuer saßen.«
»Ich spiele eine Creuth , keine Harfe ... «, widersprach Caillean und schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht, mein Kind. Ich bin zum Singen zu müde. Aber du kannst unsere Trauer mit deiner schönen Stimme lindern.«
Die Hohepriesterin schloß die Augen, und Kea nickte lächelnd. Die junge Priesterin besaß nicht Diedas Können, aber ihre helle, reine Stimme war an diesem Abend für sie alle wie Balsam.
Riannon legte Caillean den Arm um die Schulter. »Wir werden heute nacht zu Ehren der Göttin singen, und SIE wird uns trösten. Es ist gut, daß du rechtzeitig zurückgekommen bist, um IHR zu huldigen, wenn der Mond voll geworden ist.«
»Ich habe dafür gesorgt, daß ihr alle das Ritual kennt und die Göttin auch ohne mich ehren könnt«, erwiderte Caillean mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Nun ja, das stimmt.« Riannon lachte leise. »Aber ohne dich ist es anders.«
Als sie die Halle verließen, war es draußen dunkel und kalt. Der Wind hatte bei Einbruch der Nacht den Nebel aufgelöst. Über dem schwarz aufragenden Tor blitzten die Sterne. Caillean warf einen Blick nach Osten und sah, daß sich am Horizont die Göttin bereits mit einem hellen Schimmer ankündigte, obwohl sie über dem Hügel noch nicht zu sehen war.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte sie zu den anderen und hüllte sich fröstelnd in den warmen Umhang. »Die Göttin wird bald am Himmel erscheinen.« Mit großen Schritten machte sie sich auf den Weg. Die anderen reihten sich hinter ihr ein. Ihr Atem stieg in weißen Wölkchen in die kalte Nachtluft auf.
An der ersten Wegbiegung drehte sich Caillean um. Das Tor der Halle stand noch offen. Sie sah im Fackelschein Gawens dunkle Gestalt. Selbst aus der Ferne vermittelte er den Eindruck trauriger Einsamkeit. Am liebsten hätte Caillean ihn zu sich gerufen, damit er mit ihnen am Ritual teilnehmen würde. Aber das hätten die Priesterinnen, vor allem Eilned, nicht verstanden. Sie mußte ihn allein zurücklassen. Aber er war in Sicherheit. Avalon, die heilige Insel, würde ihm Schutz bieten. Das Tor der Halle fiel zu, und sie sah ihn nicht mehr. Entschlossen drehte sie sich um und stieg den steilen Weg nach oben.
Die lange
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