Die Herrin von Avalon
Armen, als könnte sie die Göttin an sich drücken, die dort erschienen war.
»Große Göttin, sprich zu mir! Sage mir, was DU von mir erwartest. Was soll ich tun?«
Aber alles blieb still. Sie erhielt keine Antwort auf ihre Frage. In dem Stein floß noch immer die Kraft, Caillean empfand sie wie ein sanftes Prickeln, das durch das Mark ihrer Knochen zu fließen schien, doch die Göttin war nicht mehr da. Der Stein blieb kalt. Nach einer Weile richtete sich Caillean seufzend auf.
Der Mond wanderte weiter, und bald warfen die heiligen Steine lange Schatten. Caillean hatte den Blick noch immer nach innen gerichtet. Sie war sich der Ringsteine bewußt, ohne sie wirklich zu sehen. Erst, als sie sich erhob, bemerkte sie, daß sich ihre Augen auf einen der größeren Steine richteten.
Der Ring der Steine auf dem Tor war dem Durchmesser nach nicht außergewöhnlich groß. Die meisten Steine reichten Caillean bis zur Hüfte oder bis zur Schulter. Doch dieser eine war größer, und er schien sich plötzlich zu bewegen. Eine schattenhafte Gestalt löste sich aus dem Gestein.
»Wer ... ?« flüsterte die Hohepriesterin, aber sie wußte bereits, wer es war. Sie hörte ein leises dunkles Lachen. Dann trat die Fee ins Mondlicht. Sie trug wie bei der Begrüßung am Ufer ein Gewand aus Rehfell und den Kranz mit Beeren im Haar.
»Herrin der Feen, ich grüße dich ... «, sagte Caillean förmlich.
»Ich danke dir für deinen Gruß, kleine Amsel«, erwiderte die Fee und lachte noch einmal. »Aber was sage ich? Aus dir ist ein Schwan geworden, der mit seinen Küken im Gefolge auf dem Wasser schwimmt.«
»Warum bist du hier?«
»Könnte es einen besseren Ort für mich geben? Die andere Welt kommt mit eurer Welt an gewissen Stellen in Berührung ... obwohl es inzwischen nicht mehr so viele gibt wie früher. Die Steinkreise sind zu gewissen Zeiten Tore. Auch alle Berggipfel, Klippen, Höhlen und Buchten, wo sich das Meer mit dem Land vermählt, können als Tore dienen. In beiden Welten gibt es jedoch einige wenige Plätze, die sich immer öffnen lassen. Dieser Tor hier ist der zuverlässigste von allen.«
»Das spüre ich«, erwiderte Caillean leise. »Er erinnert mich an den Hügel der Jungfrauen von Vernemeton.«
Die Fee nickte. »Jener Hügel war ein geweihter Platz, aber das Blut, das dort geflossen ist, hat das Tor für immer verschlossen.« Caillean biß sich auf die Unterlippe, als sie an den glühenden Haufen Asche unter dem grauen Himmel dachte. Würde sie je die Trauer um Eilan überwinden können?
»Es war gut, daß du diesen Ort verlassen hast«, hörte sie die Fee nach einer Weile sagen. »Und es war richtig, den Jungen hierherzubringen.«
»Was willst du von ihm?« Die Sorge lag deutlich in Cailleans Stimme.
»Ich möchte ihn auf sein Schicksal vorbereiten.« Sie kam etwas näher und sah Caillean forschend an. »Kannst du mir sagen, was du von ihm willst?«
Caillean blinzelte und versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, damit sie sich besser unter Kontrolle hatte. »Was für ein Schicksal wartet auf ihn?«
»Das zu sagen, steht weder mir noch dir zu«, antwortete die Fee. »Aber hast du nie darüber nachgedacht, weshalb Eilan soviel riskiert hat, um das Kind zu bekommen und es unter ihren Augen in größtmöglicher Sicherheit aufwachsen zu lassen?«
»Sie war Gawens Mutter ... «
Die Fee unterbrach sie: »Eilan war Hohepriesterin, eine sehr gute. Weißt du nicht, daß sie die Tochter aus jenem Blut war, dem dieses Land die höchste menschliche Weisheit zu verdanken hat?«
Caillean zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Vergessene Wunden brachen wieder auf. Die Erinnerungen waren schmerzlich, und sie mußte sich eingestehen, daß sie nicht hierhergehörte.
»Ich bin nicht in diesem Land geboren, und ich entstamme keiner adligen Familie«, stieß sie gepreßt hervor. »Willst du mir sagen, daß ich kein Recht habe, hier auf Avalon die Hohepriesterin zu sein? Darf ich deiner Meinung nach auch den Jungen nicht aufziehen?«
»Kleine Amsel ... «, die Fee schüttelte lächelnd den Kopf. »Höre auf das, was ich dir zu sagen habe. All das, was Eilan als ihr Erbe mit auf die Welt brachte, hast du dir durch Arbeit und ständiges Lernen erworben. Das andere hat dir die Göttin, die Herrin des Lebens, zum Geschenk gemacht. Eilan hat dir diese Aufgabe anvertraut. Gawen ist der letzte Erbe aus dem Blut der Wissenden. Sein Vater war mütterlicherseits ein Sohn des Drachen. Er ist durch sein
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