Die Herrin von Avalon
dessen Heiligtum von einem Kreis Apfelbäume umgeben war.
Dierna blieb stehen und runzelte die Stirn. Der Hügel war eigentlich keine richtige Insel, obwohl man ihn als solche bezeichnete. Doch nun verdiente er seinen Namen tatsächlich. Der Nebel hing tief über dem Wasser und war noch so dicht, daß man den Himmel nicht sah, auch wenn das Land bereits im Sonnenlicht glänzte. Dierna glaubte, etwas unter den Bäumen zu sehen. Sie wußte, wie der Pfad verlaufen mußte, obwohl er überflutet war. Sie griff nach einer Holzstange, die ans Ufer getrieben worden war, um den Grund abzutasten, und watete durch das trübe Wasser, das ihr bis an die Knöchel reichte.
Der Nebel war beim ersten Schritt noch ein Schleier, beim dritten bereits ein Vorhang, der ihr Ziel ebenso verhüllte wie den Platz, von dem sie gekommen war.
Panik stieg in ihr auf, und sie blieb stehen.
Das ist meine Heimat , sagte sie sich, ich kenne diese Wege, seit ich laufen gelernt habe. Ich sollte mich blind oder selbst im Schlaf hier zurechtfinden!
Sie holte tief Luft und bemühte sich, mit Hilfe von Übungen, die sie schon beinahe so lange praktizierte, wie sie in Avalon lebte, wieder ruhig zu werden. Plötzlich hörte sie einen verzweifelten Ruf.
»Dierna ... hilf mir!«
Es klang schwach, ob aus Erschöpfung oder weil die Stimme aus der Ferne kam, konnte Dierna nur schwer entscheiden, da der Nebel alle Töne dämpfte. Sie lief schneller weiter.
»Hilfe ... Hilfe ... Kann mich jemand hören?«
Dierna stockte der Atem; die Erinnerung trübte ihren Blick. »Becca!« rief sie mit erstickter Stimme. »Ruf weiter! Becca, ich komme!« Sie begann zu laufen und stolperte, rutschte und fiel beinahe hin.
»Göttin ... ich habe mich so sehr bemüht, den Weg zu finden! Göttin, hilf mir ... «
Die Worte wurden vom Nebel verschluckt. Aber sie genügten Dierna, um sich zu orientieren. Das Wasser reichte jetzt fast bis zu den Knien. Sie blieb stehen und suchte mit Sinnen, die über das Sehvermögen hinausgingen, die Umgebung wie damals ab, als sie Carausius gefunden hatte. Schließlich entdeckte sie die undeutlichen Umrisse eines Baums und die Gestalt einer Frau, die sich an den Stamm klammerte.
Dierna watete den Abhang hinauf und erreichte die Gestalt. Die langen dunklen Haare klebten ihr auf der Haut und verdeckten das Gesicht. Die kleinen Hände waren mit Schlamm verschmiert. Der Körper war zierlich wie der eines Kindes. Aber es war kein Kind. Dierna drückte die zitternde Frau an ihre Brust und blickte in Teleris Augen.
»Ich dachte ... « Dierna konnte vor Verwirrung und Überraschung keinen klaren Gedanken fassen. »Ich dachte, du wärst meine kleine Schwester ... «
Das Staunen wich aus Teleris Gesicht, und sie schloß die Augen. »Ich habe mich im Nebel verirrt«, flüsterte sie. »Ich hatte mich verirrt, seit du mich weggeschickt hast. Ich habe versucht, nach Avalon zurückzukommen.«
Dierna blickte wortlos auf sie hinunter. Als sie von Teleris Hochzeit mit Allectus gehört hatte, wollte sie Teleri ebenfalls verfluchen. Doch sie brachte die Kraft dazu nicht auf. Teleri war offenbar von denselben Mächten bestraft worden, die den Mörder von Carausius zu Fall gebracht hatten. Aber Teleri lebte noch.
Nebelschwaden legten sich um sie wie feuchte, kalte Schleier. Dierna aber fühlte nichts. Sie sah nur Teleri, sich selbst und den Apfelbaum.
»Du bist durch die Nebel gekommen ... « flüsterte sie. »Das kann nur eine geweihte Priesterin. Oder man muß das Reich der Fee durchqueren.«
»Dierna, ich bin nicht deine Schwester, nach der du gesucht hast ... verzeih mir ... «
Langsam stiegen wie aus tiefem Wasser Gedanken in Dierna auf. Konnte sie dieser Frau vergeben, für deren Liebe sich Allectus gegen seinen Herrn erhoben hatte? Konnte sie sich selbst vergeben, daß sie so sicher gewesen war, den Willen der Göttin zu kennen?
Dierna seufzte, und sie wollte nur noch verzeihen und vergeben. Sie befreite sich damit von einer Last, die sie getragen hatte, ohne etwas davon zu ahnen.
»Ich gelobe, daß ich jede Frau in diesem Heiligtum als meine Schwester, meine Mutter, meine Tochter, als meine Blutsverwandte behandeln werde ... « Die Stimme der Hohepriesterin gewann Kraft, als sie den Schwur von Avalon wiederholte.
»Dierna ... « Teleri blickte zu ihr auf, und ihre dunklen Augen, die auch in dem von Leid gezeichneten Gesicht noch schön waren, füllten sich mit Tränen. Dierna versuchte zu lächeln, aber dann weinte auch sie. Sie konnte Teleri
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