Die Herrin von Avalon
nur an sich drücken und wie ein Kind wiegen.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als sie endlich die innere Gelassenheit wiederfand. Der Nebel wollte nicht weichen, und es war kalt.
»Wir sitzen hier fest«, sagte sie mit einer ungezwungenen Fröhlichkeit, die ihre Worte Lügen strafte. »Aber wir werden nicht verhungern, denn es hängen reife Apfel am Baum.« Sie ließ Teleri los, stand auf und pflückte einen Apfel. Dabei sah sie, daß sich die Luft über dem Wasser bewegte. Es dauerte nicht lange, und aus dem Nebel tauchte die Gestalt einer Frau auf, die einen kleinen flachen Kahn von der Art stakte, wie sie das kleine Volk benutzte.
Dierna blieb mit angehaltenem Atem stehen. Die Frau kam ihr bekannt vor. Trotz der Kälte war die Fremde barfuß, trug nur einen Umhang aus Hirschleder und auf dem Kopf einen Kranz leuchtend roter Beeren.
»Sei gegrüßt!« Dierna fand endlich ihre Stimme wieder.
»Kannst du zwei Verirrte zum Tor zurückbringen?«
»Herrin von Avalon und du, künftige Herrin von Avalon, ich grüße euch. Deshalb bin ich hier!« erhielt sie zur Antwort.
Dierna verneigte sich und hob die erschöpfte Teleri in den Kahn. Dann kletterte sie selbst hinein. Einen Augenblick später glitt das Boot lautlos durch die weiße Wand. Der Nebel war sehr dicht und leuchtete geheimnisvoll, wie es manchmal geschah, wenn man ihn durchquerte, um die Außenwelt zu erreichen. Als sie aus dem Nebel auftauchten, begrüßte sie das strahlende Sonnenlicht von Avalon.
DIERNA
»Gestern nacht, als der Mond zum ersten Mal nach der Tag-und Nachtgleiche des Frühlings voll war, bestieg meine Tochter Aurelia den heiligen Sitz der Prophetin. Es ist lange her, daß wir auf diese Form des Sehens zurückgriffen haben. Doch die Druiden mit ihren weit zurückreichenden Erinnerungen kennen und bewahren das Ritual. Mir wird das Gesicht nur noch selten zuteil. Unsere Unsicherheit wuchs. Deshalb entschied ich, den Versuch zu riskieren, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Und Aurelia besaß schon immer den Mut ihres Vaters.
Teleri, die mir inzwischen so nahe ist wie meine rechte Hand, wird nach mir die Hohepriesterin sein. Wir glauben jedoch beide, daß es Aurelias Bestimmung ist, einst über Avalon zu herrschen. Das ist der richtige Lauf der Dinge, denn wie ähnlich sie Carausius auch sein mag, so hat sie doch mehr von Teleri gelernt, die ihr ebenso eine Mutter war wie ich.
Wäre Carausius noch am Leben, hätte sie ihre Kindheit vielleicht in einem Palast verbracht. Carausius wäre es vermutlich gelungen, die Römer zu vertreiben, Constantius hätte nicht in Britannien geherrscht, und sein Sohn Constantin wäre vielleicht nicht zum Augustus ausgerufen worden, als sein Vater in Eburacum starb.
Nun herrscht Constantin über die Welt. Die Christen, die sich manchmal durch ihre eigenen Streitigkeiten zu vernichten schienen, sind aus den Verfolgungen unter Diocletian geeint hervorgegangen. Jetzt stehen sie unter dem besonderen Schutz seines Nachfolgers. Die Götter Roms geben sich damit zufrieden, sich die Verehrung der Völker Britanniens mit dem Christengott zu teilen. Doch der Gott der Christen ist ein eifersüchtiger Herrscher.
Aurelia bestieg den Sitz der Prophetin, denn wir fühlten uns wieder einmal von den Christen bedroht. Ihr helles Haar schimmerte im Mondlicht, und ich wußte, die Göttin hatte sie zu dieser Aufgabe auserkoren. Sie machte ihre Sache gut. Die heiligen Kräuter schenkten ihr einen Blick auf das, was sein wird.
Sie sah Constantin in der Fülle seiner Macht, aber ihm folgten unwürdige Söhne. Einer seiner Nachfolger bemühte sich, die alten Götter zurückzubringen. Er starb jung in einem fernen Land. In seiner Zeit fielen die Barbaren wieder in Britannien ein und nach ihnen die Männer aus Eriu. Trotzdem blühte unser Land wie nie zuvor. Nur die Tempel der alten Götter, geplündert und zerstört von den Christen, die unsere Göttin die Ausgeburt der Sünde nannten, wiesen anklagend zum Himmel.
In einer späteren Zeit rief sich ein Feldherr zum Imperator aus und zog mit seinen Legionen nach Gallien. Aber er wurde besiegt, und die Männer, die mit ihm gekommen waren, blieben in Armorica. Von da an überfluteten die Barbaren aus Germanien das Römische Reich und zogen schließlich sogar durch die Tore Roms. Die Legionen verließen Britannien, und das Land wurde endlich unabhängig.
Mehr als ein Jahrhundert war vergangen. Die bemalten Völker kamen von Norden über die alte Grenze und verwüsteten
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