Die Herrin von Avalon
Neiten ruhig, aber dann räusperte er sich. Sein Gesicht wurde rot, und er blickte ihr nicht in die Augen. »Taliesin spricht eine Wahrheit aus, von der ich gehofft hatte, du würdest sie nie erfahren müssen.«
»Wessen Tochter bin ich dann? Du sagst, du bist nicht mein Vater. Behauptest du als nächstes, die Herrin ist nicht meine Mutter?«
»O doch, sie ist deine Mutter«, sagte Neiten mit belegter Stimme. »Sie hat mir und Betoc dieses Haus überlassen, als sie dich uns übergab. Sie hat versprochen, daß das Land immer uns gehören und daß du immer unsere Tochter sein wirst.« Er schwieg und sprach dann mit Mühe weiter. »Es sei denn, deine Schwestern würden beide sterben, ohne Töchter zu hinterlassen. Wenn nun auch die Ältere tot ist, die sie bei sich in Avalon behalten hatte, um sie zur Hohepriesterin auszubilden, dann bist du ihre einzige Erbin.«
»Und hat sie einen Ehemann für mich ausgesucht?« fragte Viviane bitter. Neiten hatte mit einer Familie an der Südküste von Mona über eine mögliche Heirat mit deren Sohn gesprochen.
Der junge Mann gefiel Viviane. Seine Augen verrieten, daß die anderen Welten ihm nicht verschlossen waren. Auf der Insel lebten genug Menschen, in deren Adern das alte Blut der Druiden floß. Ihre Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für andere unsichtbar waren, galt nicht als ungewöhnlich. Viviane hatte davon geträumt, ihn zu heiraten, Herrin ihres eigenen Hauses zu sein und Kinder zu haben.
»Wenn du Hohepriesterin werden sollst«, sagte Neiten mit einiger Anstrengung, »wird deine Ehe die heilige Hochzeit der Priesterin mit dem Gott sein.«
Viviane spürte, wie sie blaß wurde. »Und es ändert nichts, wenn ich sage, daß ich nicht gehen will?«
»Überhaupt nichts. Die Belange von Avalon wiegen schwerer als alle unsere Wünsche«, antwortete Taliesin mitfühlend. »Es tut mir leid, Viviane.«
Sie richtete sich auf und kämpfte mit den Tränen. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Wann brechen wir auf?«
»Ich würde sagen sofort, aber mein armes Maultier muß sich ausruhen, sonst fängt es an zu lahmen. Wir werden im Morgengrauen losreiten.«
»So schnell!« Sie schüttelte den Kopf. »Warum konnte sie mir nicht mehr Zeit lassen?«
»Es ist der Tod, mein Kind, der dir keine Zeit gelassen hat. Du bist schon alt, um die Ausbildung zu beginnen. Außerdem werden Schnee und Eis das Reisen bald völlig unmöglich machen. Wenn ich dich nicht jetzt mitnehme, könntest du nicht vor dem Frühling nach Avalon kommen. Geh und pack deine Sachen. Aber belaste dich nicht mit mehr Kleidern, als für unterwegs nötig sind. In Avalon wirst du das Gewand der Jungfrauen tragen.« Er sagte das freundlich, aber sein Ton ließ keinen Widerspruch zu.
Als Viviane auf die Leiter unter das Dach stieg, um ihre Sachen zusammenzusuchen, flossen die Tränen. Avalon war ein schöner Traum, doch sie wollte den Mann und die Frau nicht verlassen, die ihre Familie gewesen waren. Sie wollte auch die Felseninsel nicht verlassen, die sie zu lieben gelernt hatte. Aber was sie wollte, das schien niemanden zu interessieren.
Viviane trocknete entschlossen die Tränen. An diesem Tag hatte sie eine Lektion erhalten, die sie nie vergessen würde. Sie wußte jetzt, daß sie das Leben dazu bringen mußte, ihr zu geben, was sie sich wünschte.
Taliesin saß am Feuer und trank heißen Apfelwein. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er entspannt geschlafen und nicht gefroren. In diesem Haus herrschte Frieden. Ana hatte eine gute Wahl getroffen, als sie Neiten ihre Tochter übergab, damit er sie erzog. Es war bedauerlich, daß sie nicht hierbleiben konnte. Sein geübtes Gedächtnis beschwor das Bild der Herrin herauf, so wie er sie zuletzt gesehen hatte. Neue Falten durchzogen ihre breite Stirn. Die schmalen Lippen über dem spitzen Kinn wirkten verkniffen. Manche Leute hätten behauptet, sie sei klein und häßlich, doch seit dem Tag vor zwanzig Jahren, als Taliesin zu den Druiden gekommen war, hatte er in ihr immer nur die Göttin gesehen.
Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und blickte hoch. Auf der Leiter zum Dach waren zwei Beine in Hosen und Wickelgamaschen aufgetaucht. Er sah zu, wie die seltsame Gestalt, die eine weite Tunika über der Hose trug, die Leiter nach unten stieg, sich umdrehte und ihn vorwurfsvoll anstarrte. Taliesin zog eine Augenbraue hoch, und der trotzige Ausdruck verwandelte sich in das hübsche Gesicht eines lachenden Mädchens.
»Sind das Sachen deines Stiefbruders?«
»Man hat
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