Die Herrin von Avalon
sie unter der Decke lag, schlief sie nicht sofort ein. Sie war das Bett nicht gewohnt, und ebensowenig das Atmen der anderen Mädchen. Wie in einem Wachtraum zog alles, was sie erlebt hatte, seit Taliesin auf das Gehöft ihrer Zieheltern geritten war, an ihr noch einmal vorüber.
Sie hörte, wie Rowan im Bett neben ihr sich umdrehte und leise rief.
»Was ist? Frierst du?«
»Nein.«
Nicht körperlich , dachte Viviane.
»Ich wollte dich fragen ... « Sie suchte nach den richtigen Worten. »Du bist doch schon einige Zeit hier. Weißt du, was Anara zugestoßen ist? Wie ist meine Schwester gestorben?«
Es herrschte lange Schweigen, dann hörte sie ein Seufzen.
»Wir haben nur Gerüchte gehört«, antwortete Rowan. »Ich kann nichts Genaues sagen. Sie ... sie war mit ihrer Ausbildung fertig, und man hat sie durch die Nebel gebracht, weil sie den Rückweg allein finden sollte. Mehr weiß vielleicht selbst die Herrin nicht.« Sie verstummte und flüsterte dann: »Du darfst niemandem sagen, daß ich es dir verraten habe. Seit dieser Zeit wird Anaras Name nicht mehr ausgesprochen. Ich habe nur gehört, daß sie sich auf die Suche nach ihr gemacht haben, als sie nicht zurückkam. Man hat sie im Wasser der Sümpfe gefunden ... Sie war ertrunken.«
18. Kapitel
Die Herrin von Avalon ging durch den Obstgarten oberhalb der heiligen Quelle. Die harten grünen Apfel an den Zweigen zeigten den ersten Hauch Farbe.
Wie die jungen Mädchen, die Taliesin zu Füßen sitzen , dachte sie, sind die Äpfel klein und unreif, werden aber wachsen .
Sie hörte die Stimmen der Mädchen, und Taliesins tiefere Stimme, als er antwortete. Ana zog den Schutzkreis um sich, der es ihr ermöglichte, ungesehen zu bleiben, und ging näher.
»Vier Schätze werden in Avalon gehütet, seit die Römer in dieses Land kamen«, sagte der Barde. »Wißt ihr, welche? Und könnt ihr mir sagen, warum sie heilig sind?«
Die vier Novizinnen saßen im Gras. Sie hielten die Köpfe mit den kurzgeschorenen Haaren - blond und rot, schwarz und braun - schief und hörten zu. Die langen Haare waren wie üblich im Sommer aus Gründen der Bequemlichkeit abgeschnitten worden. Ana hatte gehört, Viviane habe dagegen protestiert. Sie konnte es ihr nicht verdenken, denn ihre Haare waren so kräftig und lang wie eine Pferdemähne. Es war das Schönste an ihr gewesen. Doch falls Viviane geweint hatte, dann mußte sie damit gewartet haben, bis sie allein gewesen war.
Rowan, das blonde Mädchen, hob die Hand. »Das eine ist das heilige Schwert. Gawen hat es getragen. Es ist ein Schwert der Könige aus alter Zeit.«
»Gawen hat es getragen, doch es ist sehr viel älter. Es wurde im Feuer des Himmel geschmiedet.« Die Stimme des Barden veränderte sich, und er erzählte die Geschichte in der rhythmischen Art, in der er Gedichte vortrug.
Viviane hörte ihm verzückt zu. Ana hatte daran gedacht, ihr zu sagen, daß die Haare nicht als eine Art Bestrafung abgeschnitten worden seien. Doch die Herrin von Avalon erklärte ihr Handeln nicht, und sie würde dem Kind keinen Gefallen tun, wenn sie es verwöhnte. Ihr stockte jedoch der Atem, als sich plötzlich Anaras blasses Gesicht unter Wasser, die Haare in den Binsen verfangen, über Vivianes Gesicht schob. Die Herrin schüttelte unwillig den Kopf und erinnerte sich daran, daß Anara nur deshalb sterben mußte, weil sie schwach gewesen war. So etwas durfte sich nicht wiederholen. Viviane sollte zu ihrem eigenen Wohl alles tun und erleiden, was notwendig war, um sie stark zu machen.
»Was sind die anderen Schätze?« fragte Taliesin.
»Ich glaube, da ist ein Speer«, sagte Fianna. Die Sonne glänzte auf ihren herbstroten Haaren.
»Und ein Teller«, fügte Nella hinzu. Sie war jünger als Viviane, aber ebenso groß und hatte braune Locken.
»Und der Becher«, meldete sich Viviane ehrfürchtig flüsternd, »von dem es heißt, er sei sowohl Ceridwens Kessel als auch der über und über mit Perlen besetzte Gral, den Arianrhod in ihrem Tempel aus Kristall hütete.«
»Er ist all das, und er enthält diese Dinge in sich, so, wie er das heilige Wasser der Quelle enthält und es auch ist. Und doch, wenn man diese vier Schätze unvorbereitet sehen würde, könnte man wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches an ihnen entdecken. Das soll uns lehren, daß selbst die alltäglichen Dinge heilig sein können. Wenn man die Schätze jedoch berühren würde«, er hob mahnend den Finger, »das wäre etwas anderes. Es bedeutet den Tod, sich
Weitere Kostenlose Bücher