Die Herrin von Avalon
erlaubt hätte, auf das Eis zu gehen. Sie hatte bestimmt gewußt, daß es brechen würde.
In der Barke lagen noch mehr Pelze. Viviane hüllte sich dankbar hinein, denn als die Männer das Boot mit ihren Stangen vorwärts stakten und das Ufer hinter ihnen zurückblieb, spürte sie den kalten Wind. Überrascht sah sie, daß die alte Frau, die sie für eine Dorfbewohnerin gehalten hatte, hoch aufgerichtet am Bug saß, als spüre sie die Kälte nicht. Sie kam Viviane jetzt anders vor. Und sie schien diese Frau irgendwie zu kennen.
Sie erreichten schnell das offene Wasser. Die Bootsleute hatten die Stangen inzwischen gegen Ruder ausgetauscht. Als der Wind stärker wurde, schaukelte die Barke in der Dünung. Viviane hatte gerade festgestellt, daß sie im Schneetreiben das dunkle Ufer der Insel mit der runden Kirche aus hartem grauen Stein jetzt deutlich sehen konnte, als die Männer die Ruder plötzlich einzogen.
»Herrin, rufst du die Nebel?« fragte einer von ihnen.
Im ersten Augenblick dachte Viviane erschrocken, er habe sie gemeint, doch dann erhob sich zu ihrer Verblüffung die alte Frau am Bug. Allerdings wirkte sie jetzt weder klein noch alt. Vivianes Gesicht mußte ihre Gefühle verraten haben, denn sie bemerkte ein spöttisches Lächeln auf dem Gesicht der Frau, die sich der Insel zuwandte. Viviane hatte ihre Mutter als Fünfjährige zum letzten Mal gesehen und konnte sich nicht bewußt an ihr Aussehen erinnern. In diesem Augenblick aber erkannte sie Ana. Sie sah Taliesin vorwurfsvoll an. Er hätte sie warnen können!
Doch ihr Vater - wenn es ihr Vater war - blickte wie gebannt auf die Herrin, die mit jedem Augenblick größer und schöner wurde, als sie die Arme hob. Sie beugte den Oberkörper zurück und stand einen Atemzug lang bewegungslos da, bevor sie mit klarer Stimme die Anrufung sprach, die aus unverständlichen Worten bestand. Gleichzeitig ließ sie die Arme in einer fließenden Bewegung wieder sinken.
Viviane spürte das Beben, das sie von einer Wirklichkeit in die andere brachte. Noch bevor die Nebel sie einhüllten, wußte sie, was geschehen war. Trotzdem wurden ihre Augen groß vor Staunen, als sich die Nebel plötzlich teilten und Avalon, umflossen vom letzten Licht der Sonne, die in der Welt, die Viviane kannte, nicht geschienen hatte, vor ihnen lag. Auf dem Ring der Steine, der den Tor krönte, lag kein Schnee, doch das Ufer schimmerte weiß. Die Zweige der Apfelbäume wirkten, als seien sie mit Blüten übersät. Vor Vivianes staunenden Augen zeigte sich die Insel als eine überirdische Vision in Weiß. In ihrem ganzen Leben sollte sie nie mehr so etwas Schönes erleben.
Die Bootsleute tauchten lachend die Ruder ins Wasser und brachten die Barke schnell zur Anlegestelle. Man hatte sie gesehen - weißgekleidete Druiden und Mädchen und Frauen in Gewändern aus naturfarbener Wolle oder im Blau der Priesterinnen eilten den Hügel herunter. Die Herrin von Avalon streifte die Tücher ab, mit denen sie sich verkleidet hatte, und ging als erste an Land. Dort drehte sie sich um und reichte Viviane die Hand.
»Meine Tochter, sei willkommen auf Avalon.«
Viviane wollte die Hand ergreifen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Der ganze Ärger der Reise brach aus ihr heraus.
»Wenn ich willkommen bin, dann wundere ich mich, daß du so lange damit gewartet hast, nach mir zu schicken. Wenn ich deine Tochter bin, warum hast du mich dann ohne Ankündigung aus dem einzigen Zuhause gerissen, das ich hatte?«
»Ich nenne niemals die Gründe für mein Tun!« Die Stimme der Herrin klang kalt.
Plötzlich erinnerte sich Viviane. Als kleines Kind hatte sie manchmal auf Zärtlichkeit gehofft und statt dessen diese Kälte erlebt, die schlimmer war als eine Züchtigung.
Etwas freundlicher fuhr die Herrin fort: »Meine Tochter, es wird die Zeit kommen, da du vielleicht genauso handelst. Aber im Augenblick mußt du dich zu deinem eigenen Wohl der gleichen Disziplin unterwerfen wie jede Bauerntochter, die als Novizin auf dieser Insel lebt.«
Viviane stand stumm neben ihr, als die Herrin - als ›Mutter‹ konnte Viviane sie sich nicht mehr vorstellen - ein Mädchen zu sich winkte.
»Rowan, bring sie in das Haus der Jungfrauen und gib ihr das Gewand einer Novizin. Sie wird ihr Gelübde vor dem Abendessen in der Halle ablegen.«
Das Mädchen war schlank. Unter dem Schal, den sie um Kopf und Schultern geschlungen hatte, sah man blonde Haare. Als sie aus der Sichtweite der Herrin waren, meinte sie: »Hab
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