Die Herrin von Avalon
hilft«, sagte Julia.
»Das genügt nicht.« Taliesin schüttelte den Kopf. »Wenn der König unfähig oder nicht bereit ist, sich für die Menschen zu opfern, dann muß der Merlin von Britannien es tun.«
»Aber wir haben keinen ... « begann Nectan, und seine roten Wangen wurden blaß. Obwohl Ana im ersten Augenblick erschrak, als sie erriet, wen Taliesin meinte, empfand sie eine gewisse Genugtuung angesichts der Angst des alten Druiden, man werde von ihm erwarten, daß er diese Rolle übernahm.
» ... keinen Merlin«, beendete Taliesin den Satz. »Und wir haben keinen Merlin mehr gehabt, seit die Römer zum ersten Mal in Britannien eingefallen sind und er gestorben ist. Carausius hat den Kampf weitergeführt.«
»Der Merlin ist einer der Meister, eine große Seele, die es ablehnt, aus dieser Ebene in eine höhere aufzusteigen, damit er weiterhin über uns wachen kann«, sagte Nectan und saß wieder etwas entspannter auf seiner Bank. »Es würde ihn schwächen, einen Körper anzunehmen. Wir können ihn um Führung bitten, aber wir dürfen nicht verlangen, daß er noch einmal als Mensch unter uns weilt.«
»Selbst wenn das unsere einzige Rettung wäre?« fragte Taliesin. »Wenn er so erleuchtet ist, wird er wissen, ob es richtig ist, das abzulehnen. Aber er wird ganz bestimmt nicht kommen, wenn wir ihn nicht darum bitten!«
Julia beugte sich vor. »Zur Zeit des Caractacus hat das auch nicht geholfen. Der König überlebte zwar, aber er geriet in Gefangenschaft, und die Römer haben die Druiden auf der heiligen Insel erschlagen.«
Nectan nickte. »Obwohl das eine Katastrophe war, beklagen wir jetzt den Untergang der Römer, die damals das Land erobert haben! Ist es nicht möglich, daß wir eines Tages ebenso friedlich mit den Sachsen zusammenleben werden?«
Die anderen sahen ihn sprachlos vor Empörung an, und er verstummte.
Die Römer , dachte Ana, besaßen Kultur und ein Heer. Die Sachsen sind kaum besser als die Wölfe in den Hügeln .
»Selbst wenn der Merlin morgen geboren würde«, sagte sie laut, »müßte er erst zum Mann heranwachsen. Bis dahin wäre es vermutlich zu spät.«
»Es gibt einen anderen Weg, von dem ich gehört habe«, sagte Taliesin leise. »Wenn ein lebender Mann seine Seele öffnet, um den anderen hineinzulassen ... «
»Nein!« Die Angst verwandelte ihre Stimme in eine Peitsche, die Taliesin einen Hieb versetzte. »Im Namen der Göttin! Das verbiete ich! Ich will den Merlin nicht! Dich will ich hier bei mir ... « Sie sah ihm in die Augen und legte in diesen Blick ihre ganze Macht. Nach einem quälend langen Schweigen, das eine Ewigkeit zu dauern schien, stellte sie fest, daß das heldenhafte Leuchten seiner grauen Augen schwächer wurde.
»Die Herrin von Avalon hat gesprochen, und ich gehorche«, murmelte Taliesin. »Aber soviel will ich dir sagen«, er blickte sie traurig an, »am Ende muß es ein Opfer geben.«
Viviane lag in ihrem Bett im Haus der Jungfrauen und beobachtete den Tanz winziger Staubteilchen im letzten schrägen Sonnenstrahl, der am Türvorhang vorbei in den Raum fiel. Sie fühlte sich innerlich und äußerlich wund. Die älteren Priesterinnen hatten ihr gesagt, das liege daran, daß sie auf die Vision nicht vorbereitet gewesen sei. Ihr Körper hatte sich den Bildern widersetzt und war erstarrt. Ein Muskel verspannte sich gegen den anderen. Sie konnte von Glück reden, daß sie keine gebrochenen Knochen hatte. Auch ihr Bewußtsein war in die andere Wirklichkeit hineingezogen worden. Hätte die Herrin nicht ihr eigenes Bewußtsein geöffnet und sie gesucht, wäre sie vielleicht verloren gewesen.
Viviane empfand es als das größte Wunder, daß ihre Mutter bereit gewesen war, dieses Risiko einzugehen, und daß ihr Bewußtsein die Berührung durch das Bewußtsein der anderen Frau furchtlos hingenommen hatte. Der Teil von Viviane, der immer zweifelte, sagte ihr, die Herrin habe vielleicht nur erfahren wollen, was die Vision ihr gezeigt hatte. Trotzdem gab es etwas in Ana, das ihre Tochter immer mehr erkannte. Viviane wurde den Verdacht nicht los, daß sie sich ähnlicher waren, als sie beide zugeben wollten.
Vielleicht , dachte sie und lächelte, fällt es uns deshalb so schwer, miteinander auszukommen .
Die Herrin von Avalon besaß als Hohepriesterin besondere geistige Fähigkeiten. Viviane mochte die Begabung ihrer Mutter haben, doch wenn sie nicht lernte, sie richtig zu nutzen, stellte sie für sich selbst und alle in ihrer Umgebung eine Gefahr dar.
Das
Weitere Kostenlose Bücher