Die Herrin von Avalon
Erlebnis mit der Vision hatte sie wirkungsvoller ernüchtert als jede Strafe, die Ana ihr möglicherweise auferlegen würde. Und selbst Viviane mußte zugeben, daß sie Strafe verdiente. Sie würde ihre Einstellung zu dem Leben auf Avalon grundsätzlich ändern müssen.
Der Winter nach ihrer Ankunft war einer der härtesten gewesen, an die sich jemand erinnern konnte. Das Eis, das an Samhain wie ein Hauch auf dem Wasser gelegen hatte, bedeckte um die Mitte des Winters weit und breit alles. Die Dorfbewohner hatten auf Schlitten Nahrungsmittel nach Avalon gebracht, die sie durch Eis und Schnee ziehen mußten. Eine Zeitlang waren alle zu sehr vom reinen Überleben in Anspruch genommen, um ernsthaft an Vivianes Ausbildung zu denken. Doch auch sie selbst hatte meist wenig Interesse an dem Unterricht gezeigt und ihre Mutter damit beinahe gezwungen, sie zum Lernen anzutreiben.
Der Türvorhang bewegte sich, und ein appetitlicher Geruch drang herein, der Viviane das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Rowan kam an den Betten vorbei und stellte lächelnd ein zugedecktes Tablett auf die Bank.
»Du hast eine Nacht und einen ganzen Tag geschlafen. Du mußt Hunger haben!«
»Den habe ich«, erwiderte Viviane und zuckte vor Schmerz zusammen, als sie sich auf einen Ellbogen stützte. Rowan nahm das Tuch ab, und Viviane sah eine Schüssel Eintopf, den sie gierig löffelte. Sie entdeckte kleine Fleischstückchen darin. Sie staunte darüber, denn die Mädchen erhielten während der Ausbildung nur leichtes Essen, um ihre Körper zu reinigen und ihre Durchlässigkeit für das Geistige zu vergrößern. Zweifellos dachten die Priesterinnen, Viviane brauche im Augenblick nicht noch mehr Durchlässigkeit. Und sogar sie neigte dazu, dem ausnahmsweise einmal zuzustimmen.
Obwohl sie hungrig war, stellte sie fest, daß ihr Magen sich weigerte, mehr als die Hälfte des Eintopfs aufzunehmen. Seufzend lehnte sie sich gegen die Kissen.
»Willst du jetzt wieder schlafen?« fragte Rowan. »Ehrlich gesagt, du siehst aus, als hätte man dich geprügelt.«
»So fühle ich mich auch, und ich würde gern schlafen. Aber ich fürchte, ich werde Alpträume bekommen.«
Rowan beugte sich neugierig vor. »In der Halle haben sie nur gesagt, du hättest ein schreckliches Unglück gesehen.« Sie zögerte einen Augenblick, dann fragte sie: »Was ist es? Was hast du gesehen?«
Viviane blickte schaudernd ihre Freundin an. Selbst diese einfache Frage beschwor die Schreckensbilder von neuem herauf. Ehe sie antworten konnte, hörten sie Stimmen vor der Tür. Rowan drehte sich um, und Viviane seufzte erleichtert, als der Vorhang beiseite geschoben wurde und die Herrin von Avalon eintrat.
»Ich sehe, man hat sich um dich gekümmert«, sagte Ana kühl, als sich Rowan verbeugte und den Raum verließ.
»Danke ... daß du mich zurückgeholt hast«, murmelte Viviane. Es entstand ein unbehagliches Schweigen, doch sie glaubte zu sehen, daß die Wangen ihrer Mutter etwas mehr Farbe hatten als sonst.
»Ich bin keine ... mütterliche Frau.« Das Sprechen fiel Ana sichtlich schwer. »Und das ist vielleicht auch ganz gut so, denn ich muß die Pflichten der Hohepriesterin über die der Mutter stellen. Als Priesterin hätte ich nicht anders gehandelt. Aber es freut mich zu sehen, daß es dir besser geht.«
Viviane blinzelte. Das war nicht gerade viel an liebevoller Zuwendung und bestimmt nicht das, wovon sie geträumt hatte, wenn sie als Kind an ihre Mutter dachte. Doch sie wollte gerecht sein. Ana hatte ihr gegenüber zum ersten Mal mehr Freundlichkeit gezeigt als in den ganzen neun Monaten ihres Aufenthalts in Avalon. Konnte sie es wagen, um etwas mehr zu bitten?
»Es geht mir besser, aber ich habe Angst vor dem Einschlafen ... Wenn Taliesin etwas auf der Harfe spielen könnte, hätte ich bestimmt bessere Träume.«
Im Gesicht ihrer Mutter braute sich ein Unwetter zusammen. Doch im nächsten Augenblick schien sie eine Idee zu haben und nickte.
Als der Barde später am Abend kam und neben ihr saß, wirkte er ebenfalls besorgt. Viviane erkundigte sich, was los sei, doch er lächelte nur und erwiderte, sie habe genug Schwierigkeiten für diesen Tag. Er wollte sie nicht mit seinen eigenen Sorgen belasten. In der Musik, die er den glänzenden Saiten der Harfe entlockte, lag jedoch keine Trauer, und Viviane fiel schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Das folgende Jahr bewies, daß Viviane wirklich eine Seherin war. Das verschaffte ihr ein gewisses Ansehen unter
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