Die Herrlichkeit des Lebens
kaum eine Minute still. Zu Robert sagt er: Sind Sie nicht so etwas wie ein Kollege? Als einfacher Landarzt könne er die Verhältnisse hier im Haus natürlich nicht bis ins Letzte beurteilen, aber auf den ersten Blick scheine doch alles bestens, das Zimmer, die Aussicht, dazu die wunderbare Dora, die er ja schon kenne, damals in Berlin, als ich euch leider sagen musste, dass es mit Berlin ein Ende haben muss. Er erkundigt sich nach den Ärzten, lässt sich in allen Einzelheiten erklären, wer wann welche Diagnose gestellt hat, wobei es für ihn keinen Unterschied macht, ob jemand Doktor oder Professor ist. Nach zwei Stunden schickt er sich an zu gehen, nur weil Robert eine Andeutung gemacht hat, dass es allmählich Zeit ist. Der Onkel gibt dem Doktor die Hand, umarmt Dora, sagt, dass sie auf sich aufpassen sollen. Mensch Junge, sagt er, Kinder, und ist aus dem Zimmer.
Dora hat Ottla im letzten Moment gesagt, dass sie heiraten wollen. Sie erzählt nicht zum ersten Mal, wie sich Ottla gefreut hat, sie strahlt, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Auch den Brief hat sie erwähnt, dass sie seit Ewigkeiten auf Antwort warten, und wie es der Zufall so will, kaum haben sie darüber gesprochen, ist die Antwort da. Dora meint zu wissen, dass sie bestimmt nicht günstig ist, und tatsächlich ist der Brief eine klare Absage. Der Herr Doktor habe die Gründe ja selbst genannt, er komme aus einer Familie mit schwachen religiösen Bindungen, habe nach eigenem Bekunden gerade damit begonnen, sich mit der Religion seiner Väter zu beschäftigen, deshalb sei eine Verbindung unmöglich. Der Ton ist nicht unfreundlich, aber in der Sache lässt der Mann keinen Zweifel, vergisst am Ende auch nicht, dem Doktor baldige Genesung zu wünschen, bestellt Grüße an Dora, zu der er seit Langem leider keine Verbindung habe, unddamit ist das Urteil gesprochen. Hat er wirklich geglaubt, es könnte anders lauten? Fast ist Dora enttäuschter als er, offenbar hat sie wider besseres Wissen gehofft, und nun sitzen sie beide da und wissen nicht, was tun. Er hat sich Doras Vater anvertraut, also glaubt er dessen Nein nicht einfach übergehen zu können, es wäre kein gutes Omen, fürchtet er, so wie der Brief selbst kein gutes Omen ist. Dora versucht ihn zu beruhigen. Wir haben uns doch. Haben wir uns etwa nicht? Trotzdem ist es ein schwerer Schlag. Er fühlt, wie ihm weiter die Kräfte schwinden, oder es ist der doppelte Besuch, der wie alle Besuche Kraft gekostet hat, und in dieser trübseligen Stimmung treffen sie auf Max. Er ist für ein paar Tage beruflich in Wien und bemüht sich redlich, etwas Tröstliches zu sagen. Er erkundigt sich nach den Fahnen, die noch unterwegs sind, liest den Brief, findet ihn eher befremdlich als schlimm, schlimm allerdings in seiner Wirkung, wenngleich der Fehler ja wohl darin besteht, sich an Doras Vater gewandt zu haben. Das zumindest deutet er an. Oder der Doktor bildet es sich ein, denn er hat Mühe, sich zu konzentrieren, außerdem wissen sie kaum, was reden. Alles ist weit weg, die Geschichte mit Emmy, woran Max arbeitet, was genau er in Wien macht, als gingen ihn dergleichen Dinge nichts mehr an. Er hat seit Wochen nicht geschrieben, aber Max fragt nicht danach, auch die beiden nächsten Male nicht, sie gehen auseinander, ohne sich viel gesagt zu haben, dass er wahrscheinlich nie mehr gesund wird, dass sie sich womöglich nicht wiedersehen.
Ein paar Tage fürchtet er sich. In den Nächten, wenn er wach liegt, wenn rund um ihn herum nur Stille ist, wenn er angestrengt lauscht, ob da etwas ist, in diesem Dickicht aus Stille das tröstliche Rauschen eines Wassers, ein paar Schritte, nebenan beim Nachbarn ein Flüstern, sodassman etwas in der Hand hätte, einen klitzekleinen Beweis, dass das Leben nicht aufhört, dass es nur Nacht ist und man am Morgen wohlbehalten erwacht.
Robert hat eine Tüte Kirschen aus Wien mitgebracht, sie sind die ersten Vorboten des Sommers. Es ist Mitte Mai, und er ist seit Ewigkeiten nicht draußen gewesen, schafft es nur hin und wieder auf den Balkon, und auch das immer seltener. Mit dem Schlucken geht es halbwegs gut, er isst, unter den strengen Blicken Doras, die darauf achtet, dass er zeitig schläft, spätestens um neun, halb zehn ist Bettruhe. Oft schaut sie gegen Mitternacht noch einmal vorbei und setzt sich, wenn er wach ist, zu ihm, denn so im Dunkeln lässt sich manches sagen, von seiner Angst, was er bereut, den Brief, dass er nicht anders konnte, und wieder: von
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