Die Herrlichkeit des Lebens
wie er es den Eltern erklären soll, dass da jemand ist, eine junge Frau ausgerechnet aus dem Osten, den der Vater so verachtet. Soll er vor ihn hintreten und sagen, ich habe sie dort in Müritz kennengelernt und gehe zu ihr nach Berlin? Er legt sich verschiedene Anfänge zurecht, versucht es erst mit der Mutter, dann mit dem Vater. Er fragt sich, was so schwierig daran ist, und schließlich ist er fast beruhigt, fängt noch einmal von vorne an, ob er nichts übersehen hat, die Lage in Berlin, die Zimmerfrage, und wieder: seine Kräfte, den Mangel an Tatkraft, den er sich seit Jahren vorwirft, ohne jedes Ergebnis.
Er berichtet Robert von dieser Nacht, nicht so sehr, weil er an die Nacht glaubt, sondern weil es seit Langem eine Art Brauch zwischen ihnen ist, sich über ihre Nächte zu beklagen. Vor zwei Jahren im Sanatorium, als sie sich kennenlernten, haben sie oft davon gesprochen, in eine andere Stadt zu gehen. Darauf kommt der Doktor jetzt zurück, sie müssten beide schnell weg, spätestens nächstes Jahr, zum Beispiel in die schmutzigen Berliner Judengassen, in denen Dora lebt, wenngleich er Dora mit keinem Wort erwähnt.
Für den Nachmittag haben sie sich verabredet, um den verpassten Spaziergang nachzuholen. Diesmal wartet sie auf ihn, wieder in diesem Mantel, ein wenig zögerlich, als ob sie die schlechte Nacht auf Anhieb erraten könnte. Sie blickt ihn fragend an, aber er tut, als wäre nichts, nimmt zum ersten Mal ihre Hand, die sich klein und trocken anfühlt. Kaum sind sie ein paar Schritte gegangen, sind sie da, wo sie tags zuvor in seinem Zimmer gewesen sind, immer noch in diesem Flüsterton, während um sie herum der Regen durch Kiefern und Birken rauscht. Der Doktor deutet an, wie verwirrt er seit gestern ist, allesist auf eine bestürzende Art neu, alles ist in Bewegung. Er möchte, dass sie sich in ihm nicht täuscht, dass sie ihn richtig einschätzt, auch sich selbst, damit sie später nichts bereut. Sie sagt, sie wüsste nicht, was. Bereuen? Der Doktor weiß nicht, wie er es formulieren soll. Er ist ein kranker Mann, er ist seit einem Jahr pensioniert. Er hat seltsame Gewohnheiten. Damit sie in etwa weiß, wie es um ihn steht, spricht er von seiner Tuberkulose, nur damit sie erkennt, worauf sie sich einlässt, denn so hat er sie gestern verstanden, so versteht er selbst es. Dass er krank ist, ist ihr egal. Nicht egal. Ich will nur sein, wo du bist, der Rest wird sich finden. Er hört vor allem das Wir, wie es klingt, sanft und bestimmt, als könne ihnen nun nicht mehr viel geschehen. Über die Zimmerfrage hat sie schon nachgedacht. Sie kennt Leute, die sie fragen kann, wenn er möchte, schreibt sie noch heute nach Berlin. Willst du das? Sie erwähnt ein paar Namen, die ihm nichts sagen, auf dem Weg zum Strand, dem letzten Stück, bevor sie den Wald verlassen, beide fröstelnd, obwohl der Regen merklich nachgelassen hat. Warte, sagt sie. Soll ich? Sie meint die Zimmerfrage, aber vielleicht noch etwas anderes, der Doktor sagt, ja, bitte schreib, und welcher Himmel bloß so gütig gewesen sei, sie ihm zu schicken, das möchte er gerne wissen.
Abends im Zimmer versucht der Doktor zu rekapitulieren, was sie genau geredet haben, aber eigentlich hat er nur ihre Stimme, das Schweigen, das allerdings vorkommt und nicht unangenehm ist, wenn sie nur laufen und das Reden einfach weitergeht. Mehr weiß er nicht. Er ist halbwegs ruhig, alles nimmt seinen Lauf, als müsse er gar nichts tun. Nur Else Bergmann wegen der Reise nach Palästina muss er endlich schreiben, da es eine solche Reise ja gewiss nicht geben wird. Sie wird nicht allzuüberrascht sein, dass er nicht fährt, trotzdem muss er sich erklären, es kostet ihn Überwindung, ihr zu schreiben und so zu tun, als wäre es ihm am Ende nicht recht, obwohl er genau das schreibt.
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E S DAUERT EINE W EILE, bis sie begreift, was er von ihr will. Warum er zögert, sie zu berühren, da sie doch nichts lieber möchte als das, wenn er sie abholt zum Spazierengehen, denn jetzt gehen sie fast jeden Tag spazieren. Es ist weiter ziemlich kühl, aber es regnet nicht mehr, es gibt sogar Sonne, sie haben Zeit, sie können richtig lange gehen, Hand in Hand, aber, was Dora betrifft, noch immer mit diesem Zittern, als könne sie ihn von einer Sekunde auf die andere verlieren. Manches versteht sie nicht an ihm, wenn er sie fragt, ob es ihr ernst ist, wenn er sich schlechtmacht vor ihr. Möchtest du die Wahrheit wissen, kann er zum Beispiel sagen, und dass er sie
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