Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
muss es dir einfach sagen, Ven«, erklärte sie und blinzelte Tränen zurück. »Ich … ich vergebe dir. Du hattest recht. Fünfzehn Jahre Güte und Hingabe gleichen die Schuld einer einzigen schrecklichen Entscheidung aus. Ich liebe dich, Ven. Ich musste es dich wissen lassen.«
»Danke«, erwiderte er, und seine Stimme in ihrem Geist wurde schwächer. »Da ist etwas, das ich dir sagen sollte.«
»Bewahre deine Kraft«, sagte sie. »Werde gesund.«
»Es ist zu spät. Du hast gute Arbeit geleistet, aber mein Körper ist zu schwer verletzt worden. Ich habe vielleicht nur noch wenige Augenblicke. Ich muss es sagen. Aus dir ist eine gute, starke und eigenwillige Frau geworden, Jandra. Ich habe dich immer als meine Tochter angesehen. Du hast mich sehr stolz gemacht.«
»Oh, Ven«, sagte sie und drückte seine Klaue, suchte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen von Leben.
»Ich werde dich immer lieben, Jandra«, sagte er, und dann wurde seine Stimme noch schwächer, ferner, und verschwand schließlich vollkommen.
Albekizan eilte weiter, schob sich die Treppe hoch, immer eine Stufe nach der anderen, denn er wusste, dass die Stufen schon bald enden würden und sein Gegner nirgendwo mehr hin konnte.
»Hörst du es?«, fragte Bitterholz so nah, so nah. »Der Engel des Todes lauert oben. Er ist des Wartens müde. Die Kinder sind alle tot, und die Sünden sind auf die Väter übergegangen.«
Albekizan fand ein graues Stück Stoff über der offenen Falltür, die zu dem flachen, runden Dach des Turmes führte. Er zog es zur Seite und blinzelte, als helles Sonnenlicht die Schatten verjagte.
Er drückte den Umhang vor seine Nase. Er trug den gleichen Geruch wie der Umhang, den Gadreel aus dem Wassertunnel gefischt hatte.
Albekizan stieg durch die Tür hinauf, und auf der Turmmauer stand ein Mann mit grauen Haaren und dunklen Augen.
Seine Wangen waren feucht von Tränen. So groß war die Trauer, die in seine Gesichtszüge eingemeißelt war, dass Albekizan tatsächlich den Blick darauf richtete und nicht auf den Bogen, den er trug, und den rotgefiederten Pfeil, der auf ihn zielte.
»Du wirst nur lang genug leben, um mich zu töten«, sagte Bitterholz, und die Hand, die die Bogensehne hielt, gab etwas nach.
Der Pfeil fand sein Ziel, bohrte sich in Albekizans Kehle.
Er versuchte zu schreien, aber er brachte nur ein gurgelndes Zischen zustande. In stummer Wut sprang er auf seinen Feind zu, der keine Anstalten machte, ihm auszuweichen. Albekizan schloss den weit geöffneten Kiefer um den Bauch des Menschen. Die Wucht schleuderte sie beide über die Mauer, und Albekizan streckte seine mächtigen Schwingen dem Wind entgegen.
Er konnte nicht atmen. Der Mann in seinem Kiefer wurde schlaff, und Albekizan flog weiter, getrieben von Gefühlen, die sich tiefer in ihn bohrten als Pfeile. Er würde sterben, und das erzeugte Angst. Bitterholz würde ebenfalls sterben, aber ohne Kampf, und das erzeugte Enttäuschung. Aber die Enttäuschung wich der Freude, als er auf die Erde unter sich blickte. Der Herbstwald hatte sich leuchtend rot gefärbt, die Baumkronen schwankten im Wind wie tänzelnde Flammen, und er stürzte, stürzte, stürzte in seinen ewigen Scheiterhaufen, während die Welt in Flammen aufging.
Bitterholz spürte, wie der Kiefer des Königs schlaffer wurde, als sie auf den fernen Boden zuwirbelten. Was Albekizans
Zähne nicht aus seinem Körper gerissen hatten, würde der Aufprall auf den Boden erledigen. Bitterholz konnte jetzt den breiten, tiefen Fluss unter sich sehen, und dann ging ihm ein Lied durch den Kopf, das Hezekiah ihm beigebracht hatte.
Sollen wir uns am Fluss treffen?
Mit einem Platschen nahm das Wasser sie auf, und Bitterholz stürzte durch Dunkelheit.
Er lebte immer noch.
Konnte ihn denn gar nichts töten? Konnte gar nichts das hier beenden?
»Du kannst es beenden«, sagte sie.
Bitterholz sah zu der Stimme hin und fand ein Licht in der Ferne, und in diesem Licht stand sie. Ihr Körper leuchtete, ihre Haare wehten in einer Brise um sie herum, die Bitterholz nicht spürte.
»Recanna«, flüsterte er.
»Du kannst es beenden«, sagte sie noch einmal und drehte sich zum Licht um.
Bitterholz versuchte sie einzuholen, aber seine Füße konnten sich nirgends abstoßen.
»Recanna!«, rief er.
Sie warf einen Blick über die Schulter. In ihrem Gesicht stand ein rätselhaftes Lächeln. »Du kannst mir nicht folgen, noch nicht. Aber wir können immer noch zusammen sein«, sagte sie, während das
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