Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
eingesperrt. Doch drei Tage bevor der Ukas dort eintraf, verhalfen ihm Sympathisanten zur Flucht, indem sie einen Wächter betrunken machten. Erst Monate später erfuhr Katharina von der peinlichen Panne. Damit war jener Mann frei, der kurz danach den größten Bauernaufstand in der Geschichte Russlands anführen sollte. Als »übelsten Staatsfeind« verdammte die Monarchin den Aufrührer, seine Anhänger als »Ungeheuer der Menschheit« – während spätere Generationen ihn als frühen Klassenkämpfer und Revolutionär verehrten.
Ob Staatsfeind oder Messias – nach seiner Flucht tauchte Pugatschow erneut bei den Ural-Kosaken unter. Hier war er sicher, denn viele Kosaken stammten selbst von Flüchtlingen ab. Abenteurer, entlaufene Bauern und Abtrünnige waren die Urväter des Reitervolks gewesen, das seit Jahrhunderten in den Steppen zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer lebte. Und die Kosaken, die sich nicht als Untertanen, sondern als »freie Menschen« verstanden, bewahrten sich an den Randgebieten des russischen Imperiums eine große Autonomie. Lange besaßen sie eigene Truppen und verteidigten wichtige Landesgrenzen. Den Zaren wurde die Freiheit ihrer unentbehrlichen Grenzschützer zunehmend unheimlich. Das Misstrauen wuchs, als viele Kosaken im 17. Jahrhundert einer Kirchenreform nicht folgten und sich als Altgläubige bekannten – eine Glaubensströmung, die von der orthodoxen Großkirche als Ketzerei verfolgt wurde. Immer stärker versuchte die Zentralmacht, die Kosaken zu kontrollieren und mit Vertrauensleuten zu durchsetzen. In dieser gereizten Atmosphäre hatte Pugatschow leichtes Spiel. Er wiegelte die Ural-Kosaken zur Rebellion auf: gegen die wachsende Abgabenlast, gegen die Zwangsrekrutierung zum Militär, gegen die Einschränkung ihrer Freiheit.
Am 29. September 1773 erreichte Pugatschow mit rund hundert Anhängern die Stadt Jaizk, das heutige Oral im Westen Kasachstans. Weil die kaiserliche Garnison nicht sofort die Flucht ergriff, ließ er zur Einschüchterung elf Männer aufhängen, die als Parteigänger der Zarin galten. Niemand sollte mehr zweifeln, wie ernst es ihm war. Anschließend stürmte er ostwärts und eroberte einige Festungen in der Gegend des Jaik, des heutigen Ural-Flusses. Die Bewohner begrüßten die Rebellen als Befreier und bewirteten sie mit Brot und Salz. Binnen weniger Tage schwoll Pugatschows Truppe auf etwa 1000 Mann an. Nun fühlte er sich stark genug, die größte Stadt der Region anzugreifen: Orenburg, wichtigster Umschlagort für den Handel mit Zentralasien, umgeben von einer wuchtigen Befestigungsanlage, verteidigt von 1300 Garnisonssoldaten. Im Oktober begann die Belagerung. Jetzt war auch die Zarin alarmiert und sendete Truppen Richtung der Stadt. Doch die kaiserlichen Einheiten unterschätzten die großen Entfernungen und koordinierten ihre Aktionen nur schwach. Ihre langsame Infanterie war den flinken Reiterhorden der Rebellen unterlegen. Die tauchten blitzartig auf, griffen an und zogen sich dann wieder hinter die nächste Hügelkette zurück.
Der Gegner agiere »extrem schnell« und »schieße, wie man es von Bauern nicht erwarten würde«, notierte General Wassilij Ker, Oberkommandierender der Strafexpedition, respektvoll. Mitte November geriet Ker unter so heftiges Feuer, dass er sich anschließend wieder nach Moskau zurückzog. Eine zweite kaiserliche Einheit erlebte wenig später ein noch größeres Fiasko: Die Rebellen rieben sie binnen 15 Minuten auf, erhängten den Kommandeur und 32 Offiziere. Dabei winkte Pugatschow mit einem Taschentuch, um das Zeichen zur Exekution zu geben. Wer überleben wollte, lief über. Besorgt registrierte Katharina II. die Erfolge der Aufständischen. Schlimmer noch: Pugatschow gab sich als falscher Zar aus. Und zwar ausgerechnet als Peter III. , Vorgänger und Ehemann der Monarchin: ein ungeschickter Herrscher aus dem deutschen Fürstengeschlecht Holstein-Gottorf, der sich nicht nur mit seiner machthungrigen Frau überworfen hatte, sondern auch mit einflussreichen Adeligen und der Kirche. Nach nur sechs Monaten Herrschaft fegte ihn 1762 eine von Katharina initiierte Palastrevolte vom Thron. Als der Gestürzte kurz danach unter bis heute ungeklärten Umständen verstarb, waren viele Russen überzeugt, er sei auf Befehl Katharinas ermordet worden.
Jetzt, elf Jahre später, schienen Katharina die Schatten der Vergangenheit einzuholen. Pugatschow behauptete, Peter III. sei den Mordkommandos entkommen und habe sich jahrelang
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