Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
sich barg, für Katharina, für den Thron, für Russland. Im Herbst 1773 gelang es dem Kosaken Jemeljan Pugatschow, hinter sich ein Heer unzufriedener, geschundener und rechtloser Männern zu versammeln – ein Führer zwar ohne rechtes Programm, aber ein mitreißender Typ, der geschickt die »anarchischen Instinkte der Volksmassen« entfachte, so Neumann-Hoditz. Doch der bäuerliche Volksanarchismus, das machte ihn gefährlich, wurde von einem Gegen-Zaren geführt. Denn Pugatschow behauptete, er sei Peter III. Die Zarin schien über die Hintergründe dieser Revolte nicht nachdenken zu wollen, sie nannte die Aufständischen »Straßenräuber«. Erst als die Kritik an ihr und ihrem Führungsstil wenige Jahre später offener und politischer wurde, erfasste sie Unruhe – die sich nach dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 noch verstärkte, weil sie fürchtete, das Volk werde sich mit der »Seuche des französischen Irrwegs« infizieren.
Sie erzitterte vor den Worten mutig gewordener Publizisten wie dem Beamten Alexander Radischtschew, dessen 1790 erschienener Bestseller »Reise von Petersburg nach Moskau« ihr Regime außergewöhnlich scharf attackierte. Radischtschew prangerte Misshandlungen von Leibeigenen an, schrieb über die unvorstellbare Armut, über Zwangsehen, Vergewaltigungen von Bauernmädchen durch ihre Herren – in der Ode »Freiheit« prophezeite er gar das Ende der Zarenherrschaft.Katharina sah in dieser Bestandsaufnahme »kriminelle und durch und durch aufrührerische Tendenzen«. Wie Pugatschow wurde Radischtschew zum Tode verurteilt, dann begnadigt und ins sibirische Städtchen Ust-Ilimsk verbannt. Russland blieb Adelsland, und es war noch reaktionärer als zu Beginn der Herrschaft Katharinas.
Ach ja, die Liebe, der Sex, ihre angebliche Gier. Ein Thema, das echte und vermeintliche Forscher, einander überbietend in ausschweifender Phantasie, bis heute beschäftigt. Oftmals erscheint Katharina als eine Mischung aus Lady Macbeth und einer Nymphomanin. Ihr Liebesleben wurde romantisiert oder vulgarisiert. »Historikern, die keine größere Sorge zu kennen scheinen«, ärgerte sich der Geschichtsforscher Valentin Gitermann, »verdanken wir den Nachweis, dass Katharina von ihrem 23. Lebensjahr an insgesamt 21 Liebhabern ihre Gunst geschenkt hat.« Manche der Männer nutzte sie aus in vielleicht schwelgerischer Schamlosigkeit, manche liebte sie wirklich. Ihr letzter Gespiele, der sich ganz offiziell am Hofe bewegte, war fast 40 Jahre jünger als sie, auch dies galt Moralaposteln als bedeutsames Thema.
Lange vor ihrem Tod am 17. November 1796 hatte die »teutsche Prinzessin aus dem unmächtigen Anhaltinischen Hause von Zerbst« (so die damalige Zeitschrift »Politisches Journal«), die eine überraschend gute Schreiberin war, einen Text für ihren Grabstein entworfen. Sie »trachtete« danach, »ihren Untertanen Glück, Freiheit und Wohlstand zu verschaffen«, formulierte Katharina über sich selbst, »sie war nachsichtig, machte sich das Leben nicht schwer, war von heiterem Naturell, hatte eine republikanische Seele und ein gutes Herz«. Das war, wie so oft in Russland, wenn Zarenmacht sich inszenierte, nicht die ganze Wahrheit.
Erhebung aus der Sklaverei
Aus leibeigenen Bauern rekrutierte
der Deserteur Jemeljan Pugatschow
eine Rebellenarmee. Dabei gab er sich
als Zar Peter III. aus – zeitweilig
mit großem Erfolg.
Von Christoph Gunkel
D er Brief kam drei Tage zu spät. Es waren jene drei Tage, die Zarin Katharina II. die größte innenpolitische Krise ihrer langen Herrschaft hätten ersparen können: einen Aufstand, der sich zu einem Flächenbrand im Süden Russlands ausweitete. Eine gefährliche Sozialrebellion der leibeigenen, praktisch versklavten Bauern, von der Herrscherin zunächst völlig unterschätzt, dann systematisch verschwiegen. Bis die aufgeklärte Zarin zu den Waffen der absoluten Monarchie griff: Geheimpolizei, Strafexpeditionen, Hinrichtungen, Folter. Der verspätete Brief Katharinas erreichte am 8. Juni 1773 den Gouverneur der Provinzmetropole Kasan an der Wolga. Er erhielt einen Ukas, von der Zarin persönlich bestätigt. Ein Don-Kosake namens Jemeljan Pugatschow solle mit der Knute geprügelt und dann zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt werden. Der Grund: Pugatschow hatte am Ural ansässigen Kosaken Geld versprochen, sollten sie mit ihm ins Osmanische Reich flüchten – mit dem sich Russland im Krieg befand. Der Plan wurde verraten und Pugatschow in Kasan
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