Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
ziemlich genaue Vorstellung von Napoleons Absichten geben. Besonders Oberst Alexander Tschernyschow knüpft an der Seine glänzende Kontakte. Zusammenfassend schreibt er in die Heimat: »Napoleon setzt alle seine Hoffnungen darauf, genügend Kräfte zu konzentrieren, um vernichtende Schläge zu führen. Er ist fest überzeugt, dass er nicht länger als ein Jahr aus Paris fernbleiben könne.«
Mit Hilfe solcher Informationen entwirft der Zar seine Gegenstrategie. Sein wichtigster Beamter ist in dieser Zeit Michail Barclay de Tolly, ein baltendeutscher General schottischer Abstammung. Ihn ernennt Alexander I. Anfang 1810 zu seinem Kriegsminister, mit ihm spielt er die militärischen Szenarien durch. Beiden ist klar, dass sie die gewaltige französische Streitmacht nicht in offener Schlacht besiegen können. Also verlegen sie sich auf eine Art der Kriegführung, die hohe taktische Disziplin verlangt: den Gegner kommen lassen, große Schlachten vermeiden, den Raum nutzen und dann zurückschlagen. Den meisten russischen Militärs sind die Planspiele ihres Kaisers nicht geheuer. Sie wollen schneidig attackieren, anstatt vermeintlich feige zurückzuweichen. Ihre Ausbildung kreist vom ersten Tag an um den Kult der männlichen Tapferkeit. Dominic Lieven, Historiker an der London School of Economics, hat sich in seiner wegweisenden Studie »Russland gegen Napoleon« auch mit den soldatischen Traditionen des Zarenreichs befasst. Lievens Befund: »Jeder Leutnant hatte zu glauben, dass ein Russe fünf Franzosen aufwog.« Das 764-seitige Werk gibt einen gründlichen Einblick in die politische und militärische Gedankenwelt jener Zeit.
Im März 1812 überträgt Alexander seinem Kriegsminister Barclay de Tolly das Kommando der Ersten Westarmee, die ihr Hauptquartier im heute litauischen Wilna hat. Vom 26. April an begibt er sich selbst dorthin, um Napoleons Angriff zu erwarten. Der sieggewohnte Franzose hat die größte Landstreitmacht in Bewegung gesetzt, die Europa bis dahin gesehen hat: die »Grande Armée« mit 600000 Mann. Am 24. Juni trifft abends in Wilna die Nachricht ein, dass Napoleons Vorhut die Grenze zu Russland überschritten habe. Alexander, der unter freiem Himmel auf einem Sommerball tanzt, ist nicht überrascht, seine Späher haben ihn auf dem Laufenden gehalten. Bei Smolensk kommt es im August zur Schlacht, im September auch bei Borodino, einem Dorf 100 Kilometer vor Moskau. Aber das sind keine Entscheidungsschlachten.
Auf russischer Seite fordert die weithin verhasste Strategie des Rückzugs ein Opfer. Der Zar bleibt zwar bei seiner Meinung, aber er löst Barclay de Tolly als Befehlshaber ab und ersetzt ihn durch Michail Kutusow. Damit spielt er auch eine nationale Karte, denn der russische General hat allein aufgrund seiner Herkunft mehr Rückhalt in der Truppe als sein Vorgänger, der als deutscher Bürokrat verschrien ist. Nun dreht sich alles um die Frage: Moskau halten, das alte Herz des Reiches – oder auch hier zurückweichen? Kutusow, der neue Heerführer, hat eine klare Meinung: »Wenn Moskau verlorengeht, dann geht auch Russland verloren.« Es kommt anders. Kampflos ziehen die Franzosen in die Stadt. Vom 15. September an residiert Napoleon im Kreml. Beeindruckt schildert er seiner Frau Marie-Louise den Luxus der Moskauer Adelspaläste.
Verwüstet wird die Stadt nicht durch Kämpfe, sondern durch ein gewaltiges Feuer. Beim Brand von Moskau, der mehrere Tage lang wütet, gehen 6500 Holzhäuser und 8200 Geschäfte in Flammen auf. Franzosen und Russen beschuldigen sich gegenseitig, das Feuer gelegt zu haben. Der Anblick ihrer brennenden Stadt stürzt die Einheimischen zunächst in tiefe Niedergeschlagenheit, die aber in Wut und Rachedurst umschlägt. Die Eroberer bekommen das zu spüren. Bauern werden zu Partisanen, die Hinterhalte legen und Nachschublinien zerstören. Die Armee nutzt die Atempause zur Erholung. Kommandeur Kutusow erlaubt den Regimentern sogar, im großen Lager vor Moskau »Banjas«, die typisch russischen Dampfbäder, zu errichten. Napoleon sitzt im Kreml wie in einem goldenen Käfig. Nach gut einem Monat wird ihm klar, dass es so nicht weitergeht. Am 19. Oktober beginnt er den Rückmarsch. Schwer bepackt mit Beutegut wälzt sich seine immer noch stattliche »Grande Armée« nach Westen. Russische Attacken und der Mangel an Nachschub bewirken aber, dass die Kampfkraft seiner Truppe rapide verfällt. Allein beim legendären Übergang über die Beresina Ende November verliert der
Weitere Kostenlose Bücher