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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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kleinbürgerlicher Herkunft (»Rasnotschinzy«), die ab Beginn der vierziger Jahre in der Intelligenzija zahlreicher wurden; ein Teil von ihnen sollte sich bald politisch radikalisieren. Der ausgezehrte, in Armut lebende Belinski war 1832 wegen eines Dramas, das die Leibeigenschaft kritisierte, von der Moskauer Universität relegiert worden. In den 16 Jahren, die ihm blieben, wuchs er zur überragenden Instanz der Intelligenzija heran. Mit seiner ästhetisch-moralischen Autorität machte er vor, wie Literatur und Kritik praktische Alltagswerkzeuge zur Verbesserung der Gesellschaft werden sollten.

WIDERSPRÜCHE EINES ERZÄHLGENIES
    »Die Toten Seelen« und Nikolai Gogol
    Der berühmte Roman knüpft direkt an eine Eigentümlichkeit des zaristischen Leibeigenschaftsregimes an: Grundherren waren verpflichtet, für jede der bäuerlichen »Seelen«, die sie besaßen, eine Kopfsteuer an den Staat zu entrichten. Das Verzeichnis derjenigen, für die diese Abgabe zu zahlen war, erneuerte eine träge Bürokratie jedoch nur alle zehn Jahre – für zwischenzeitlich Verstorbene musste zum Verdruss ihrer Besitzer bis zur jeweils nächsten Revision des Registers weiterbezahlt werden. Da man leibeigene Bauern tatsächlich wie Grundeigentum bei der Landwirtschaftsbank verpfänden und beleihen konnte, verfällt Gogols hochstaplerischer Romanheld Tschitschikow auf die Idee, verschiedenen Grundbesitzern ihre teuren »toten Seelen« zu Spottpreisen abzukaufen. Die im Register Fortlebenden hinterlegt er urkundlich als Sicherheit für Darlehen, die er bei der Agrarbank aufnimmt – der Handel gedeiht prächtig.
    So grotesk und abgründig die Komik des Romans auf heutige Leser wirken mag, so realistisch beschwört sie eine Sklaverei von barbarischer Roheit. Paradoxerweise hatte Gogol keineswegs eine politische Satire im Sinn: Er besaß selbst Leibeigene und war konservativ eingestellt – ja Thron und Altar fast mystisch ergeben. Erschrocken über das Gesellschaftsporträt, das ihm unterlaufen war, versuchte er, in einem zweiten Romanteil dem ersten ein ideales, erhabenes Russland mit patriarchalisch wohltätigen Gutsbesitzern entgegenzusetzen.
    Weil er als realistischer Künstler an dieser selbstgestellten Aufgabe scheitern musste, versank er in moralischen Selbstanklagen: Er bezichtigte sich, unfähig zu einem adäquaten Bild des heiligen Russland zu sein. In dieser Stimmung veröffentlichte er 1847 »Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden« – ein wie von religiösem Wahn diktiertes Buch, das die blinde Unterwerfung unter die orthodoxe Kirche und den absoluten Verzicht auf Freiheit forderte und die Leibeigenschaft als göttliche Institution verherrlichte. Auf das vom Regime gefeierte Werk antwortete der Kritiker Wissarion Belinski, der Gogols realistische Kunst stets gerühmt hatte, mit einem fulminanten Brief – er wurde in Russland legendär.
    Rainer Traub

Doch die europäischen Revolutionen des Jahres 1848 führten in Russland zu einer erneuten Verschärfung der inzwischen nachlässiger gewordenen Literaturüberwachung. Als Belinski mitten in jenem Jahr seiner Tuberkulose erlag, war der Haftbefehl für ihn bereits unterzeichnet. Das Regime fürchtete den toten Kritiker kaum weniger als den lebenden – bis 1856 blieb der Presse jede Erwähnung seiner Person verboten. Anders als in Westeuropa existierte nicht einmal im Ansatz eine Mittelklasse, die liberale Reformen hätte fordern können. Die Opposition gegen den Zarismus beschränkte sich auf kleine Zirkel von Gebildeten wie jenen, dem sich der junge Dostojewski in St. Petersburg anschloss und den ein Polizeispitzel 1849 auffliegen ließ.
    Eine Sonderstellung nahm Alexander Herzen ein, der sich den Repressionen 1847 durch Emigration entzogen hatte. In Paris desillusionierten ihn die Niederlage der Revolution von 1848 und die Geldherrschaft eines neuen Großbürgertums, das Herzens altem Westler-Ideal von Volksfreiheit gar nicht ähnlich sah. Er folgerte, eine soziale Revolution in Russland müsse ganz anders ablaufen und sich auf die kollektiven Ansätze der russischen Dorfgemeinschaft stützen. Herzen begründete damit eine revolutionäre Variante slawophilen Denkens, die eine neue Generation prägte. Die setzte ihre Hoffnungen weniger auf westliche Ideen als auf die von ihr idealisierte Bauernschaft. Dass Reformen überfällig waren, hatte 1856 das Krim-Krieg-Debakel gegen die Westmächte bewiesen. »Alle wollten bessern, das Bestehende zerstören, verändern«,

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