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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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Aristokraten und einer deutschen Mutter wuchs Herzen mehrsprachig auf und wurde früh ein unersättlicher Leser. Er entdeckte seine Leidenschaft für Schillers Freiheitspathos zu ebenjener Zeit, in der die Dekabristen-Führer gehängt wurden. In seiner mehrbändigen Autobiografie »Erlebtes und Gedachtes« – einem der russischen Literaturmonumente des 19. Jahrhunderts – erzählte Herzen später, wie er als Heranwachsender angesichts der Hinrichtung der russischen Empörer eine Art Rütli-Schwur ablegte, sein Leben dem Kampf gegen die Autokratie und für die Freiheit zu widmen.
    Als Herzen in den dreißiger Jahren an der Moskauer Universität studierte, brodelten dort unter Studenten und Professoren intensive Debatten. Zwar war Philosophie als Universitätsdisziplin nach dem Dekabristen-Aufstand ebenso abgeschafft worden wie das Fach Logik an den Gymnasien. Doch Studenten und Professoren ignorierten die Denkverbote, indem sie etwa heikle Fragen im Fach Physik diskutierten und sich in Geheimzirkeln gegen zaristische Spitzel zu schützen suchten. Wer konnte, entfloh der offiziellen Geistfeindschaft zum Studium nach Preußen: Dort lehrten Hegel und später Schelling – zwei idealistische Philosophen, deren Denken vom Enthusiasmus über die Französische Revolution geprägt war.
    Nikolai I. lag gründlich daneben, wenn er glaubte, russische Studenten seien in Preußen, anders als in Frankreich, subversiven Gedanken nicht ausgesetzt. Es half nichts, dass in Berlin nacheinander der Schwiegervater und der Schwager des Zaren herrschten – Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. Denn just in jenen Jahren feierte Hegels dialektische Philosophie an deutschen Universitäten ihre größten Triumphe. Und die verkündete die unaufhörliche Bewegung des Geistes und die stete Umwälzung alles Bestehenden. Ausgerechnet diese »Algebra der Revolution« (Herzen) zog Russlands Elite in ihren Bann, während das Zarenregime den Gang der Geschichte mit allen Mitteln aufzuhalten suchte. Zu den Studenten, die westwärts die Quellen wahren Wissens suchten, gehörte ab 1838 der Gutsbesitzersohn Iwan Turgenjew (1818 bis 1883), der bald als Schriftsteller berühmt werden sollte. In Berlin, dem Mekka des spekulativen Denkens, stritten russische Studenten leidenschaftlich über Tschaadajew und seine slawophilen Kritiker.
    Hier wurde Turgenjew zum entschiedenen Westler – und hier teilte er im Winter 1840/41 seine Studentenbude mit einem anderen russischen Gutsbesitzersohn und flammenden Hegelianer: Michail Bakunin (1814 bis 1876). Der künftige Anarchist sprach vorzüglich Deutsch; neben Hegel hatte er Teile von Goethes Korrespondenz mit Bettina von Arnim (»Briefwechsel mit einem Kinde«) ins Russische übersetzt und tauschte selber romantische Briefe mit Bettina. In den frühen vierziger Jahren hatte sich in Russland ein Milieu entwickelt, das schon etwas reicher an geistigem Sauerstoff war als in den ersten Jahren von Nikolais Herrschaft. Die Zensur war laxer geworden. Nach wie vor aber stand die intellektuelle Elite des riesigen Landes als winzige, isolierte Minderheit einem rabiat denk- und fortschrittsfeindlichen Regime auf der einen und Millionen versklavter, analphabetischer Bauern auf der anderen Seite gegenüber.
    Was es für Leibeigene bedeutete, ihren Herren mit Haut und Haaren ausgeliefert zu sein, das hat Fürst Pjotr Kropotkin (1842 bis 1921) in Kindheitserinnerungen eindringlich geschildert. Der spätere Anarchist wuchs als Sohn eines reichen Gutsbesitzers auf. Obgleich sein Vater, so Kropotkin, zu den eher milden Vertretern der Art gehört habe, sei die Züchtigung des Personals an der Tagesordnung gewesen. Wenn der Hausherr gerade keine Zeit hatte, gehörte die Auspeitschung Leibeigener in Russland zu den festen Aufgaben von Polizei und Feuerwehr. Willkürlich ordneten Grundbesitzer Ehen zwischen Leibeigenen an, auch wenn die Ausersehenen sich sträubten. Bauern, die gegen eine Zwangsehe aufbegehrten, wurden in Ketten deportiert und auf 25 Jahre in die Armee gepresst, wo Offiziere geringste Vergehen wiederum durch Auspeitschen ahndeten. Beim Spießrutenlauf prügelten 1000 Soldaten so lange auf Delinquenten ein, bis denen die Haut in Fetzen vom Körper hing; ein Unteroffizier trug Sorge, dass mit voller Kraft zugeschlagen wurde. »Starb der Unglückliche bei der Geißelung«, so Kropotkin, »wurden die fehlenden Streiche dem Leichnam versetzt.«
    Bevor es so weit kam, legten viele lieber selbst Hand an sich. Andere

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