Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
richteten die Äxte, mit denen Russlands Bauern seit je den Wäldern ihre Existenz abtrotzten, in verzweifeltem Hass gegen die Peiniger. So verlor auch einer von Russlands großen Romanciers, Fjodor Dostojewski (1821 bis 1881), im Alter von 17 Jahren seinen Vater. Der war ein Wüstling und Trunkenbold und misshandelte seine Leibeigenen derart brutal, dass die sich eines Tages grausam rächten.
Fjodor Dostojewski
(Gemälde von 1872)
ULLSTEIN BILD
Der Sohn des Erschlagenen erhoffte sich als junger Westler eine gerechtere Welt von den revolutionären Utopien des Frühsozialismus. Nach der Verbannung wandelte er sich dann zum konservativen Slawophilen. Keinem der beiden Lager ist der berühmteste Graf der russischen Literatur, Leo Tolstoi (1828 bis 1910), zuzuordnen. Der wollte, weil zu seiner näheren und weiteren Verwandtschaft mehrere Dekabristen gehörten, einen Roman über die Adelsrevolutionäre schreiben. Das Projekt blieb Bruchstück, denn Tolstoi kam zu dem Schluss, der Ursprung der Revolte liege im Krieg gegen Napoleon. So machte er sich an sein Meisterwerk »Krieg und Frieden«, das die russische Gesellschaft und die Feldzüge der Jahre 1805 bis 1812 beschreibt. Aber auch die Fragmente des Dekabristen-Projekts haben es in sich, darunter ein höchst realistisch erzählter Bauernaufruhr. So wird verständlich, was später Lenin – ein Literaturkenner radikalen Schlages – über Leo Tolstoi sagte: »Bevor dieser Graf zu schreiben begann, gab es in der russischen Literatur keine echten Bauern.«
Und doch hatte die Herrenwelt der Gutsbesitzer Tolstoi so geprägt, dass er nicht nur mit Axinja, der Frau eines seiner Leibeigenen, einen Sohn zeugte, sondern diesen auch als Dorfjungen aufwachsen ließ – später wurde der Kutscher bei einem seiner legitimen Söhne. Der geniale Graf war auf besonders extreme Weise innerlich zerrissen. Aber gerade darin zeigt sich Tolstoi als typischer Vertreter der russischen Bildungselite: Eine Art von Bewusstseinsspaltung und ein kollektives Schuldgefühl waren das Erbe der gesamten »Intelligenzija«. Der Begriff erscheint, gemünzt auf die Petersburger Adelsgesellschaft um den umschwärmten Puschkin, wohl erstmals 1836 in den Tagebüchern des Dichters und herausragenden Übersetzers Wassilij Schukowski (1783 bis 1852). Warum die »Intelligenzija« nicht mit dem westlichen Begriff der »Intellektuellen« zu verwechseln ist, zeigt ein Blick auf ihre historischen Wurzeln: Sie liegen in den radikalen Reformen Peters des Großen, der das mittelalterliche Russland in die europäische Moderne katapultieren wollte. Dazu schuf er eine neue Elite im Ausland ausgebildeter Spezialisten.
Bei ihrer Heimkehr war die winzige Führungsschicht von der Masse ihrer Landsleute durch mentale und soziale Abgründe getrennt. So viel diese Intelligenzija von ihren materiellen und ideellen Privilegien profitierte, so sehr litt sie am fortdauernden Kontrast zwischen der westeuropäischen Zivilisation und der russischen Barbarei. Der unerwartete Triumph im »Vaterländischen Krieg« gegen Napoleon verschärfte diesen inneren Konflikt noch weiter. Gerade weil der Sieg von einer Woge nationalen Einheitsgefühls begleitet wurde, spürte die Intelligenzija nun erst recht Rückständigkeit und Schmutz, Brutalität und Gemeinheit, Elend und Ineffizienz der russischen Wirklichkeit – und ein wachsendes Mitgefühl für das einfache Volk.
Aber mit all ihren Talenten und Reformideen war die geistige Elite zu politischer Passivität verdammt. Das Gefühl der Nutzlosigkeit quälte sie. Nicht zufällig haben Russlands große Erzähler eine unvergessliche literarische Genealogie von »überflüssigen Menschen« (Turgenjew) geschaffen. Stammvater ist der zynische Petersburger Salonlöwe und Müßiggänger Jewgenij Onegin – der Held von Puschkins gleichnamigem Versroman. Dieses Buch lasen die Zeitgenossen als »Enzyklopädie des russischen Lebens«. Den Ausdruck prägte der Literaturkritiker Wissarion Belinski (1811 bis 1848), eine der meistverehrten Gestalten der Intelligenzija. Der soziale und moralische Einfluss Belinskis ging über seine Rolle als Literaturkritiker weit hinaus. Im Brief an einen Freund formulierte er 1847 das Dilemma der russischen Intelligenzija: »Das Volk spürt, dass es Kartoffeln braucht, aber es braucht keine wie auch immer geartete Konstitution – die wollen nur gebildete Leute, die praktisch machtlos sind.«
Als Sohn eines Militärarztes war Belinski einer jener Nichtadligen
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