Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
schrieb danach Leo Tolstoi, »alle Russen befanden sich in einem Zustand unbeschreiblicher Begeisterung.«
Die Euphorie hielt nicht lange an: Die ökonomische Lage für die große Masse der Bauern besserte sich auch nach der zunächst begeistert begrüßten Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) durch Zar Alexander II. nicht. Und die soziale Tyrannei in den Fabriken, die sich nun vermehrten, war keine verlockende Alternative. Die ersten Rebellen kamen zu dem Schluss, jetzt helfe nur noch Gewalt. 1866 leitet ein Anschlag auf Alexander II. die Ära des sozialrevolutionären Terrorismus ein. Derweil beginnt ein kleiner Teil der Intelligenzija, sich für das Werk eines deutschen Gelehrten zu interessieren, der im Londoner Exil 1864 eine »Internationale Arbeiter-Assoziation« mitgegründet hat. Das wirtschaftskritische Hauptwerk des radikalen Linkshegelianers, der zum Studium von Russlands ökonomischer Entwicklung eigens Russisch lernte, gilt als Geheimtipp.
Ein Presse-Reformgesetz von 1865 beschränkt die Präventivzensur auf Broschüren: Die sind wegen ihres geringen Umfangs regimekritischer und potentiell massenwirksamer Agitation besonders verdächtig. Im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts dürfen aber Werke, deren Umfang 160 Seiten übersteigt, fortan zensurfrei gedruckt werden. Bei Übersetzungen aus Fremdsprachen, die freiheitliche Infektion argwöhnen lassen, winkt Zensurbefreiung erst ab 320 Seiten. Doch die Sprengkraft des Wälzers tarnt sich mit einem weit größeren Umfang. So erlebt »Das Kapital« von Karl Marx seinen ersten fremdsprachigen Auftritt 1872 ausgerechnet im despotischen Russland. In diesem Jahr feiert die Familie eines geachteten Pädagogen in der Wolgastadt Simbirsk den zweiten Geburtstag des kleinen Sohnes Wladimir Iljitsch. Als Student zählt er einige Jahre später zu den gründlichsten Marx-Lesern. Die Welt wird noch von ihm hören.
»Russland zerfällt in zwei Teile«
Tagebuchaufzeichnungen von Helmuth von Moltke d. Ä., preußischer General und späterer Feldmarschall, über einen Besuch im Zarenreich 1856
28. AUGUST 1856
Man hat gesagt, dass bei zunehmender Bevölkerung das unermessliche Reich in sich zerfallen müsste. Aber kein Teil desselben kann ohne den anderen bestehen, der waldreiche Norden nicht ohne den kornreichen Süden, die industrielle Mitte nicht ohne beide, das Binnenland nicht ohne die Küste, nicht ohne die große gemeinsame Wasserstraße der vierhundert Meilen schiffbaren Wolga. Mehr noch als dies hält aber das Gemeingefühl aller auch die entferntesten Teile zusammen.
Und für dieses Gefühl ist Moskau der Mittelpunkt nicht nur des europäischen Kaisertums, sondern des alten, heiligen Zarenreiches, in welchem die geschichtlichen Erinnerungen des Volkes wurzeln, und aus welchem, trotz einer zweihundertjährigen Abschweifung*, vielleicht doch noch seine Zukunft hervorgehen wird.
5. SEPTEMBER 1856
Die väterliche Gewalt ist die Basis aller Rechtszustände in Russland. Ein Vater kann ungerecht und hart sein, aber das hebt sein göttliches Recht nicht auf. Der Russe muss durchaus einen Herrn haben, er sucht ihn sich, wenn er ihm fehlt.
Infolge der höchst eigentümlichen Gemeindeeinrichtung, in welcher Kommunismus und Sozialismus seit Jahrhunderten faktisch bestehen, wo das Privateigentum und das Erbrecht nicht gelten, konnten zwar arme Gemeinden, aber keine ganz armen Individuen vorkommen.
7. SEPTEMBER 1856
In keines sterblichen Menschen Hand ist eine solche Machtfülle gelegt, wie in die des unumschränkten Beherrschers des zehnten Teils aller Erdbewohner, dessen Zepter sich über vier Weltteile erstreckt, und der über Christen und Juden, Muselmänner und Heiden gebietet. Wie sollte man nicht aufrichtig Gott bitten, mit seiner Gnade den Mann zu erleuchten, dessen Wille Gesetz ist für sechzig Millionen Menschen, dessen Wort von der chinesischen Mauer bis zur Weichsel, vom Polarmeer bis zum Ararat gebietet, auf dessen Ruf eine halbe Millionen gehorsamer Krieger warten, und der Europa eben erst den Frieden geschenkt hat!
Die russische Gemeinde verwaltet ihre eigenen Angelegenheiten durch selbstgewählte Obere, die Starosten, denen sie unbedingt gehorcht. Die kaiserlichen Beamten sind leider oft von notorischer Unzuverlässigkeit und Bestechlichkeit. Der junge Kaiser hat hier schon mit kräftiger Hand eingegriffen, aber das Übel wurzelt tief. Auf einem Unterschleif ertappt zu werden, ist ein Unglück, nicht wie bei uns eine Schande. Zu viele sind
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